Die Seherin von Knossos
lernen und sich zu lehren, ihre eigene Sinnlichkeit zu erkennen. Die Älteren schauten zu, wie sie die Verführung ihres neuen Ehemanns einübte. Unter lautem Gelächter und zweideutigen Kommentaren führten ihr die Matronen verführerische Blicke und sinnliche Gesten vor. Sibylla lachte, ganz in ihrem Gemeinschaftsund Zugehörigkeitsgefühl aufgehend. Zugleich aber empfand sie Befremden. Beinahe jeden Mond ihres Lebens hatte sie so getanzt. Wieso kam ihr der Tanz heute Nacht so heilig vor? Und so außergewöhnlich?
Der Kreis zog sich enger um die immer wilder tanzende Braut. Als das Mädchen kurz vor der Erfüllung stand, traten seine Mutter und Großmutter vor, um es zu beschwichtigen und besänftigen. Jetzt brauchte sie keine Angst mehr vor der Ehe zu haben, nun graute ihr nicht mehr vor dem, was die Nacht bringen würde. Im Gegenteil, es wäre kein Leichtes, sie davon abzuhalten, dass sie den jungen Bräutigam bedrängte! Sie hatte sich eine geheiligte Gabe angeeignet - nämlich wie man Leidenschaft heraufbeschwört.
Dunkles Grau lag über den Hügeln, und der Mond war klein, als die Gruppe auf dem Boden einschlief. Sibylla kauerte vor dem niedergebrannten Feuer und starrte sehnsüchtig zu den zahllosen Sternen hinauf. Sie vermisste etwas ganz Elementares, etwas in ihrem Innern. Sie schlang im Dunklen die Arme um ihren Leib und fragte sich, um was sie wohl trauerte.
»Herrin?«
Eine alte Frau stand über ihr. Das Alter hatte es nicht gut gemeint mit ihrem Leib und ihrem Gesicht, doch ihre Augen leuchteten gütig im matten Dunkel der Vordämmerung. »Du hast dich verirrt«, sagte die Frau und ließ sich schwerfällig neben Sibylla nieder. Ihre Worte trafen das Orakel, und Sibylla begann zu weinen. Alte Arme legten ihr einen Umhang über und zogen sie näher, dann wurde sie sacht gewiegt, und unverständliche Worte des Trostes drangen an ihr Ohr.
Sibylla weinte noch mehr. So lange hatte sie die stärkende Liebe einer anderen Frau nicht mehr gespürt.
Fast als wäre Mimi noch da, sagte ihr Geist.
Bevor Sibylla fragen konnte, wer Mimi war, ertrank sie in einem Meer von Kummer, bis sie heulend in den Armen einer Großmutter lag.
AZTLAN
Dion blinzelte und richtete den Blick auf den Kreis von Frauen. Es war inzwischen stockfinster; bald würde die Sonne aufgehen. Immer noch tanzten und lachten sie, die Adern gefüllt mit Wein und Kräutern. Sie waren seine Cousinen, seine Schwestern, seine Geliebten, die Mütter seiner Kinder und die Mütter, die man ihm geraubt hatte.
Alle tollten nackt durch die Dunkelheit. Alle außer Irmentis, die niemals ihre Tunika abnahm, egal bei welchem Wetter oder welchem Tanz. Selbst inmitten dieser mehreren hundert Frauen war sie allein. Eine junge Nymphe war die ganze Nacht über an ihrer Seite geblieben, und Dion hatte die beiden mehr als nur einen keuschen Kuss tauschen sehen. Lächelnd malte er sich aus, er würde Ileana erzählen, dass ihre dunkle Tochter die Lippen anderer Frauen liebte ... doch er würde Irmentis Ileanas Zorn ersparen. Wer sie mit Phoebus zusammen sah, musste erkennen, dass sie auch Männer liebte.
Dion lehnte sich gegen einen Baum. Der Nebel der Drogen lichtete sich, je kühler die Nacht wurde, und Dion begriff, dass es allmählich an der Zeit war, alle heimzuschicken. Hinter ihm knackte irgendwo ein Zweig. Ein kaum hörbares, verstohlenes Geräusch.
Er sah, wie Irmentis den Kopf hob. Ihre Augen waren wie dunkle Löcher in ihrem bleichen Gesicht, doch unfehlbar wandte sie den Kopf in Richtung des Knackens. Ganz langsam stand sie auf, strich über die Wangen der Nymphe und löste sich von ihr. Sie entkorkte die Wasseramphore an ihrem Gürtel, leerte sie und steckte sie zurück unter die Kordel.
Dion sah ihrer schlanken Gestalt nach, die ganz allein auf die Baumreihe zuging. Wollte sie dem Eindringling eine Falle stellen? Ein paar Ellen von ihm entfernt taumelte ein junges Mädchen zu dicht am Feuer. Mit einem Aufschrei rannte Dion zu ihr hin, einen Moment von Irmentis abgelenkt, bis er das berauschte Kind in Sicherheit gebracht hatte. Noch während er die Kleine an seine Brust drückte, drehte er sich nach Irmentis um. Sie war verschwunden.
Er übergab das Kind einer jungen Nymphe, die ihn vor Dankbarkeit leidenschaftlich zu küssen begann. Nachdem er sich ihrer Umarmung entzogen hatte, kehrte er dorthin zurück, wo er Irmentis zuletzt gesehen hatte. Er erstarrte, als er in der Ferne Hundegebell hörte. Irmentis’ Hunde durchstreiften diese Hügel und
Weitere Kostenlose Bücher