Die Seherin von Knossos
Wälder. Er lauschte angestrengt, den Kopf auf die Seite gelegt.
Ein Ruf, Geraschel ... ein entsetzter Aufschrei.
Dion sah sich nach den Frauen um. Ein paar hockten nach wie vor am Feuer, doch die meisten schliefen bereits auf einem Teppich aus Blättern und Tannennadeln. Noch ein Schrei ... ein menschlich klingender Todesschrei. Dion schlug sich ins Unterholz und ließ sich von seinen an die Dunkelheit gewöhnten Augen durch das unwegsame Gelände leiten, über das Gestrüpp von herabgefallenen Ästen und großen Steinen hinweg.
Noch bevor er etwas sehen konnte, roch er Blut.
In einem kleinen Dickicht lagen Leichen auf dem Boden. Ir-mentis’ sehnige, langnasige Hunde schnüffelten an den Überresten: vier Hirsche und ein Mensch, aus dessen Leib schwarzes Blut in den silbrigen Boden sickerte. Dion drehte sich um, um nach seiner Sippenschwester Ausschau zu halten. Als er sie entdeckte, zuckte er entsetzt zurück.
Über einem toten Hirschen kauernd, den Körper angespannt wie den einer fressenden Löwin, leckte sich Irmentis die Finger. Sie waren dunkel vor Blut. Also stimmten die Gerüchte: Irmentis trank frisches Blut ... doch einzig der Mensch blutete.
Dion kniete neben ihm nieder und begriff, dass der Mann seine letzte Reise angetreten hatte. »Wie heißt du?«, fragte er. »Aus welcher Sippe kommst du?«
Es war ein junger Mann, und was von seiner Kehle noch übrig war, blubberte blutig. »Acteon«, hauchte der Mann. »Die Hirsche ... sie sterben übera-« Blut wallte über seine Lippen, und Dion wünschte ihm Lebewohl.
Argwöhnisch näherte Dion sich seiner Sippenschwester. In dieser Nacht war sie nicht nur Jägerin; sie war ein Raubtier.
»Was ist passiert?«
»Meine Hunde haben die Hirsche gewittert, er wollte dazwischengehen«, sagte sie. Dion brauchte eine Weile, ehe er begriff, dass sie weinte, dass ihre Tränen auf den Kopf des Tieres fielen. »Die ganze Herde ist verendet. Warum, Dion?«
Sein Blick wanderte über die vier gestürzten Hirsche. Keiner zeigte irgendwelche sichtbaren Wunden, und alle lagen auf der Seite, so als wären sie im Schlaf gestorben. Sie konnten noch nicht lange tot sein, denn die Verwesung hatte noch nicht eingesetzt. Etwas in ihrem Innern hatte sie getötet.
»Hast du so etwas schon mal gesehen?«, fragte er Irmentis und legte einen Finger auf das Gesicht des Hirsches. Keine Wundmale, nichts.
»Vor kurzem. Die Hirsche sterben zu Dutzenden. Sieh dir das hier an.« Irmentis trat an die übrigen drei und untersuchte sie alle an derselben Stelle.
Dion blickte auf eine Reihe von Flecken, an denen das Fell abgewetzt war, so als hätte sich das Tier immer wieder gekratzt oder wäre immer wieder gekratzt worden. »Das ist kaum tödlich«, meinte er. »Vom Kratzen stirbt man nicht.«
»Alle haben die gleichen Spuren.«
»Die anderen auch?«, fragte er, während er neben Acteon niederkniete. Der Himmel hellte sich allmählich auf. »Der Morgen bricht an«, sagte er leise.
»Ich weiß nicht.« Sie erhob sich geschmeidig. Er vermied es, ihre blutverschmierten Hände und den blutigen Mund anzusehen.
»Ich werde die Felle untersuchen.«
Eilig kehrten sie an die Feuerstelle zurück. Irmentis fürchtete die Sonne; sie verursachte grauenhafte Verbrennungen auf ihrer bleichen Haut. Dion weckte all jene, die mit ihnen über das Wasser reisen würden, und führte wenig später eine benommene, taumelnde Gesellschaft zum Strand hinab. Die Sonne schielte eben über den Horizont, als sich die Erde unter ihren Füßen in einer Woge aufbäumte.
Ein reißendes Seufzen dröhnte in Dions Ohren, das sogar die Schreie der Frauen übertönte. Er ließ sich auf die Knie fallen, weil der Boden zu beben begann wie ein Tier in Todesangst. Dann schoss sein Kopf herum, in Richtung des Berges Krion, wo der Kult des Stieres siedelte. Kein Feuer; es drohte keine Gefahr.
»Das Meer!«, rief er den nackten Frauen zu. Sie stolperten den Hügel hinab, während der Boden immer noch unter den Nachbeben zuckte. Der erschrockene Aufschrei einer Frau wich einem lauten, ersterbenden Kreischen. Dion blieb abrupt stehen, dann rannte er zurück zu dem dunklen Riss in der Erde.
Die Frau war verschwunden.
Die Spalte in der Erde zog sich bis zum Wasser hinab. Dion folgte Irmentis’ weißer Gestalt, die die benommenen Frauen vorwärts scheuchte. Mit einem Blick in Richtung Kallistae fragte er sich, ob man dort das Erdbeben ebenfalls gespürt hatte. Die entsetzten, bibbernden Frauen drängten ins Boot. Irmentis hatte
Weitere Kostenlose Bücher