Die Seherin von Knossos
Donnern der herangaloppierenden Stiere alles andere zu überdecken. Er packte sie an der Hand, um sie beiseite zu schleifen, und der Ring, der Hochzeitsring, den er ihr geschenkt hatte, rutschte von ihren kalten Fingern. Ihren Leichnam hinter sich her schleppend, gelangte er bis zur Wand gegenüber. Die Tiere kamen um die Kurve, und Cheftu blickte in die blutrünstigen Augen der Apis-Stiere, deren weiße Stirnzeichnungen im Dämmerlicht beinahe zu glimmen schienen.
Chloes Körper verfing sich irgendwo, und Cheftu versuchte, sie loszubekommen, während die Stiere auf ihn zustürmten. Sie rührte sich nicht! Im letzten Augenblick presste er sich gegen die Wand. Schreiend spürte er die Hufe auf ihrem Leib, als würde er selbst zertrampelt. Er machte sich so flach wie möglich, bis die Stiere an ihm vorbei waren. Die gesunden kamen zuerst. Dann kamen jene, die bei den Tempelritualen verwendet worden waren. Sie humpelten, denn ihre Vorderfüße waren beschnitten worden, während unten in den weiß gekalkten Kavernen die Kälber und Kühe brüllten.
Cheftu wartete, bis sie vorbeigedonnert waren, dann löste er sich von der Wand. Er drehte sich um und sah Chloe daliegen. Zerschmettert. Ihr bezauberndes Gesicht war nur noch ein Brei aus Fleisch und Knochen, ihr Leib war zertrampelt und zerfetzt. Sie war schon vorher tot gewesen, das wusste er, doch die Zerstörung ihres Körpers trieb ihn trotzdem zum Wahnsinn. Er küsste ihre blutigen Hände, strich ihr das blutverklebte Haar aus der Stirn, bedeckte ihr Gesicht so gut es ging mit Stoff. Es durfte nicht sein. Sie musste lebendig sein. Und doch war sie es nicht; selbst das Blut aus ihrem Körper fühlte sich klebrig und tot an.
Irgendwann blickte er auf und sah einen einzigen Bullen auf sich zurasen. Weil er es nicht ertragen konnte, Chloes Leib noch einmal in den Dreck getrampelt zu sehen, rannte er los, um auf diese Weise den Stier hinter sich herzulocken. Das Tier trieb ihn schließlich in die Enge, bis Cheftu, obwohl er sich nichts mehr von diesem Leben erwartete, sich automatisch abwandte und in einen Misthaufen hechtete, um sein Gesicht und sein Geschlecht zu schützen. Der Stier war über ihn hinweggerannt; Cheftu spürte immer noch die besinnungslosen Qualen, als seine linke Hand zerquetscht wurde, die Schmerzen beim Atmen.
Danach kam nichts mehr.
Man hatte niemanden an seiner Seite gefunden. Chloe war bereits tot gewesen, tröstete er sich. Sie hatte nicht einmal den ersten Stier mitbekommen. Sie hatte keine Schmerzen gespürt, le bon Dieu hatte sie bereits zu sich genommen. Wieso hatte man ihm nicht gestattet, sie zu begleiten?
»Herr?« Der Wesir klang ungeduldig. Cheftu blinzelte. Er hatte den zweitwichtigsten Mann in Ägypten mit Missachtung gestraft.
»Verzeih mir«, sagte er. »Ich habe nur . nur .«
Cheftu atmete tief ein, als die Erkenntnis wie ein Fels auf ihn herabstürzte. Chloe war tot! Das durfte nicht wahr sein! Das durfte nicht geschehen! Und doch war es so. Er hatte ihren Körper gesehen. Er hatte ihre leichenkalten Hände berührt. Mon Dieu! »Was ist ... aus ihrem Leichnam geworden?« War sie .? Hatte man sie .? Cheftu brachte es nicht übers Herz, nach ihrem Begräbnis zu fragen.
Ipiankhu wandte den Blick ab. »Das weiß ich nicht, doch ich werde fragen.«
Cheftu blickte auf den zerbrechlichen Ring an seinem Finger. Die Erinnerung an ihren zerschmetterten Körper ließ keinen anderen Gedanken mehr zu, und er krümmte sich zusammen, erleichtert über die Schmerzen, die ihm seine gebrochenen Rippen bereiteten. Auf diese Weise spürte er sein gebrochenes Herz nicht ganz so stark. »Herr -«, setzte Ipiankhu an, dann legte er eine Hand auf Cheftus Schulter. Cheftu erstarrte und versuchte, die Tränen niederzukämpfen. Man hatte ihm Chloe genommen? Wie konnte man ein solches Leben nehmen? Noch während er hörte, wie Ipiankhu aus dem Zimmer ging, zuckte seine Brust unter den ersten Schluchzern.
»Chloe«, hauchte er mit brechender Stimme. »Mon Dieu, Chloe!«
Chloe wälzte sich im Schlaf herum, die Beine in ihrer Wolldecke verheddert, das lange Haar um den Hals geschlungen. Das lange Haar? Wieso langes Haar? Der Gedanke verflog wieder, denn schon wurde sie wieder von ihren Träumen davongetragen.
Träume? Oder Erinnerungen?
Das Schiff schaukelte sanft unter ihnen, und Chloe warf die Wurfstäbe, die im Netz landeten, was bedeutete, dass sie mindestens über das halbe Senet-Brett zurückmusste, Cheftu rückte zwei Felder weiter in Richtung
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