Die Seherin von Knossos
breitschultrig auf Grund viel größerer Knochen. Neben ihnen wirkten die Ägypter wie zerbrechliche Kinder.
Die Seesoldaten marschierten in Formation. Ihre Uniform schien aus langem, geflochtenem Haar, kurzen, bunt gemusterten Schurzen und Hosenbeuteln zu bestehen. Sie trugen fremdartige bis zu den Knien hochgeschnürte Stiefel.
Vier der schwarzhaarigen Seesoldaten trugen einen Tragsessel die Rampe herab. Cheftu schluckte schwer, als er den Mann darin sah. Er war weiß. Nicht nur, was die Hautfarbe betraf, auch die Gesichtszüge mit der großen Knollennase und dem fliehenden Kinn wirkten angelsächsisch. Blondes Haar floss über die Rückenlehne seines Tragsessels, und seine Augen waren von einem so durchdringenden Blau, dass sie Cheftu sogar aus dieser Entfernung auffielen. Er war jung, und sein fast nackter, goldhäutiger Körper wirkte stählern. Kühl musterte er die Menge.
Cheftu hatte schon früher blonde Menschen in Ägypten gesehen. Gewöhnlich waren es wertvolle Konkubinen aus Hattai. Doch dieser Mann mit seinen scharfen Zügen und der vorstehenden Nase wirkte wie ein englischer Wilder. »Wer ist das?«, fragte Cheftu den Fischhändler an seiner Seite.
»Nestor, der Gesandte aus dem Imperium«, erhielt er zur Antwort. »Er war vor ein paar Wochen schon einmal hier, und nur Isis weiß, was er jetzt schon wieder will.«
»Im Imperium herrscht keine Hungersnot?«
Der Fischhändler blökte, was Cheftu als Lachen interpretierte. »Nein. In Aztlan sind die Straßen mit Gold gepflastert, und sie haben eine Pyramide, die bis zum Himmel reicht und die Menschen mit ihrer Schönheit blendet.«
»Gold besitzt Ägypten auch«, murmelte Cheftu. »Nur wird man davon nicht satt.«
»Ganz recht, Herr. Doch in Aztlan haben sie auch Felder, über Henti hinweg, so weit das Auge reicht, auf denen zweimal im Jahr Getreide steht. Sie haben Obstbäume voller Früchte, und der Staat schenkt jedem Mann für ein Jahr eine Konkubine.«
Cheftu grinste. Essen und Frauen, ganz eindeutig das Gelobte Land. »Wenn sie soviel haben, was will Nestor dann hier?«
Das Gesicht des Mannes wurde ernst. »Das weiß nur Pharao, ewig möge er leben!« Er sah Cheftu an, bemerkte zum ersten Mal das feine Leinen und den muskulösen Körper.
»Lang möge Senwosret leben!«, hauchte der Fischhändler und hastete davon.
Cheftu kehrte in die Taverne zurück und trank noch ein paar Becher Bier, denn inzwischen war seine Zunge gegen den Geschmack immun geworden. Zur Bezahlung reinigte er die Schwären eines Kindes und verband sie neu, dann verabschiedete er sich von der Familie des Wirtes. Noch ein Tag, noch eine Nacht allein in Ägypten, dachte er und schlug den Rückweg zum Palast ein.
Morgen musste er unbedingt mit Ipiankhu sprechen.
Cheftu wurde in die Kammer des Wesirs geführt. Ipiankhu saß an einem kleinen Tisch, den die ins Zimmer scheinende Sonne mit Licht überschwemmte. Cheftu ließ sich auf dem angebotenen Hocker nieder und nahm einen Becher Bier entgegen.
Das Licht glänzte am Kinn und in den Wimpern des Wesirs. Der Mann hatte kastanienbraunes Haar, erkannte Cheftu erstaunt. Er hatte Ipiankhu noch nie ohne Hoftracht gesehen, doch jetzt, als ihm der Wesir kaum geschminkt gegenübersaß, konnte Cheftu erkennen, dass er kein gebürtiger Ägypter war.
»Du wolltest mich sehen, Herr?«, fragte Ipiankhu.
Cheftu legte den Ring auf den Tisch. Ipiankhu runzelte die Stirn und nahm ihn dann auf. Es war ein doppelseitiger Wirbel von Perlen und Obsidian, beschrieben mit Zeichen, die Cheftu nie zuvor gesehen hatte. Er war in dem Päckchen gewesen, das man Chloe in Hatschepsuts Ägypten zugesteckt hatte, und Cheftu hatte ihn ihr abgenommen . ihrem Leichnam, zwang er sich zu verbessern.
»Woher hast du das?«
»Es war ein Geschenk.« Oder ein Fluch, dachte er.
»Meine Frau, die Frau, die neben mir gefunden wurde, hat ihn geschenkt bekommen, bevor wir hierher kamen.« Eine verrückte Hexe auf dem Markt von Noph hatte Chloe das Päckchen in die Hand gedrückt. Sie war nicht mehr dazu gekommen, es zu öffnen. War das möglicherweise ein Omen?
Ipiankhu sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Er stand auf und trat auf einen winzigen Balkon mit Blick auf den Hafen von Avaris. Cheftu folgte ihm nach.
»Sieh die Schiffe mit den lila Segeln dort«, sagte Ipiankhu und deutete dabei auf die riesigen Boote, deren Ankunft Cheftu tags zuvor beobachtet hatte.
»Sie kommen aus Aztlan.«
Ipiankhu kehrte zu seinem Stuhl zurück.
»Was hat das mit
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