Die Seherin von Knossos
über ihre Schulter. Sie war allein. Sie trat auf das Pflaster und sah die Formel des Labyrinths in bunten Steinen ins Pflaster geschrieben. Ein griechischer Schlüssel um einen fünfzackigen Stern, sodass sich das Ende des Schlüssels genau zwischen den Beinen des Sternes befand.
Das passt, dachte Chloe. Der Schlüssel liegt zwischen den Beinen. Kela war eindeutig eine Fruchtbarkeitsgöttin. Mit einem leisen Lachen sank sie auf das kühle Gras.
Hinausfinden musste sie doch hoffentlich nicht mehr, oder?
Cheftu schulte seine Miene, nichts zu verraten. Der ganze Hof würde zuschauen, wenn er Senwosret die Verbände abnahm. Diesmal konnte er die Zuschauer nicht hinausschicken. Alle würden es sehen. Oder auch nicht, je nachdem. Schwer schluk-kend und dankbar für die tiefen Schatten im Raum zog er eine Leinenschicht ab. Cheftu streckte die Hand nach einer kleinen Lampe aus, deren Flamme nicht höher brannte als sein Daumennagel, und schwenkte das Licht vor Pharao hin und her.
Noch lagen mehrere Schichten von Leinen auf den königlichen Augen.
»Sag mir, was du siehst.«
»Helligkeit ... sie flackert vor mir.« Thoth sei gelobt, zumindest war er durch die Operation nicht völlig erblindet. Aber hatte sie ihn auch geheilt?
Cheftu hielt die Lampe ruhig. »Und jetzt, Meine Majestät?«
»Bleibt sie vor mir. Ganz ruhig.«
Cheftu wusste, dass die Ablagerungen in Pharaos Augen immer dicker geworden waren, bis sein Blickfeld sich zu einem schmalen Tunnel des Lichts verengt hatte. Schließlich hatte sich auch der Tunnel geschlossen und Pharao gar nichts mehr gesehen. Der Tunnel war das allerwichtigste; durch die Operation musste er freigelegt und erweitert worden sein, so die Götter es wollten.
Ohne auf den kalten Schweiß zu achten, der ihm von den Schläfen rann, hob Cheftu die nächsten Leinenschichten ab. Er machte die Probe aufs Neue. Die letzte Verbandsschicht fiel zu Boden, und das Licht wurde gelöscht. Der Hof wartete in atemloser Stille. »Meine Majestät, öffne jetzt ganz langsam und ganz vorsichtig die Augen.« Er beobachtete, wie sich die verklebten Lider hoben und dunkle Augen zum Vorschein kamen.
Senwosrets Blick war stumpf, seine Pupillen waren geweitet. Cheftu spürte, wie ihm Schweiß über den Rücken lief. Bei den Göttern! Was sollte er nur tun?
»Du bist ein junger Mann, Magus.«
Pharao konnte sehen!
Der Hof brach in Jubel aus. »Ruhe!«, rief Cheftu. »Meine Majestät, es wird noch einige Tage dauern, bevor deine Augen klar genug sind, um Res volle Kraft zu ertragen. Bis dahin musst du im Schatten bleiben. Du darfst dich nicht bücken und deinen Kopf nur langsam bewegen.«
Senwosret lächelte, wobei seine schlaffe Kinnpartie sacht nach oben gezogen wurde. »Dann lebe ich eben ein paar Tage als Kheft! Egal! Du hast mir das Augenlicht zurückgegeben, Magus!«
Cheftu gestattete sich ein erleichtertes Lächeln.
»Du sollst einen neuen Titel, neue Ehren und neue Aufgaben an diesem Hof bekommen.« Senwosret hob die Hand, und der Zeremonienmeister überreichte ihm die Symbole Ägyptens, Krummstab und Geißel. »Fortan soll dieser Magus Nechtmer heißen, Beschützer des Augenlichts! Beim heiligen Kopfe Apis’ gelobe ich, dass jeder Wunsch Nechtmers, und sei es ein Drittel meines Königreiches, gewährt werden soll.«
Cheftu verbeugte sich und dankte Pharao.
Senwosret nahm seine Hände und blinzelte die Tränen zurück. »Die Gesichter meiner Enkel sehen zu dürfen ist ein Geschenk ohnegleichen! Der Segen der Götter sei mit dir.«
Ergriffen von der demütigen Dankbarkeit des Monarchen, konnte Cheftu nur noch nicken, ehe er sich umdrehte und von den Horden geschorener und parfümierter Höflinge umringt wurde.
In dieser Nacht gab Pharao ein Festmahl für den Magus, der ihm das Augenlicht zurückgegeben hatte. Cheftu, Nechtmer, hatte Gemächer im Palast zugewiesen bekommen und sich seine Dienerinnen frei wählen können. Selbst die parfümierten Glieder eines Dutzends verschiedener Frauen konnten ihn nicht ablenken. Er hatte lächelnd gedankt und sich dann in die erholsame Stille zurückgezogen. Imhotep wollte ihn besuchen, doch Cheftu behauptete, ruhen zu müssen. Ipiankhu lud ihn zu einem Spaziergang durch die Menagerie ein, aber Cheftu lehnte ab.
Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Hof. Seufzend betastete Cheftu die Narben auf seiner Schulter. Die Wunde wollte nicht heilen, und sie schmerzte. Er trank noch einen Becher Wein.
»Wieso?«
Die Frage kam ihm so sinnlos vor.
Wieso hier?
Weitere Kostenlose Bücher