Die Seherin von Knossos
bringen und den Tempel mit allen Priesterräumen neu bauen müssen. Ägypten kann sich kein derart ausgefallenes Vorhaben leisten.«
Senwosret stand auf, den langen, knochigen Leib nur in einen fadenscheinigen Schurz gekleidet. »Ägypten kann es sich leisten, diesem Arzt dafür zu danken, dass er mir das Augenlicht zurückgegeben hat, und Ägypten kann es sich leisten, zum Dank an diesen unbekannten Gott diesen kleinen Raum zu erbauen. Was Ägypten sich nicht leisten kann, sind ungehorsame, zweifelnde Höflinge.«
Er wandte sich an Ipiankhu. »Was sagst du?«
Der Wesir wandte den Blick ab. »Ich suche immer noch nach Weisheit, Meine Majestät.«
»Lass mich wissen, wenn du sie gefunden hast. Und jetzt geh.«
Cheftu nahm seinen neuen Ehrenplatz zur Rechten Pharaos ein und starrte wie blind auf den versammelten Hofstaat. Blütenweiße Gewänder und Schurze kleideten die wartenden Männer und Frauen. Der Audienzsaal war lang und breit, und Senwos-ret thronte an einem Ende auf einem Podest. Pharaos riesige Ohren ragten unter der roten und weißen Krone Ober- und Unterägyptens hervor, und schlaffe Haut sackte über seine goldene Schärpe. Doch aus seinen Augen sprach Güte.
Vor allem konnte er wieder sehen.
Nestor, der Gesandte aus Aztlan, stand bei den Adligen. Heute trug er einen lila Schurz, der eng um seinen Körper saß und vorne bis über die Knie reichte. Federn ragten aus dem blonden Haarknoten auf seinem Scheitel, und überall an ihm gleißte Gold - Anhänger, Armbänder und Armreifen. Er wirkte wie ein Pfau unter Schwalben.
Die blauen Augen des Gesandten fingen Cheftus Blick auf, und er neigte andeutungsweise den Kopf, ehe er sie auf die Türen am Ende des Saales richtete.
Der Zeremonienmeister ließ eine Gruppe von Männern ein. Auf Grund ihrer Kleidung, verschiedensten Schurzen und Kragen, stufte Cheftu sie als Handelsleute ein. Es war nicht leicht, dem höfischen Ägyptisch zu folgen, doch Cheftu war wie hypnotisiert.
»Meine Majestät«, sagte einer der Männer, »wir, die Alten von Gebtu, sind gekommen, dich um Gnade zu bitten.«
Cheftu sah, wie Ipiankhus Augen schmal wurden.
»Meine Majestät ist stets gnädig«, erwiderte Senwosret.
»So ist es, und dafür danken wir Amun-Re.« Der Mann knetete nervös die Hände. »Doch wir können dieses Jahr unmöglich unsere Steuern bezahlen. Bei der Überschwemmung wurden all unsere Felder überflutet, und in unserem gesamten Dorf haben wir kaum genug, um unsere Kinder durchzubringen, ganz davon zu schweigen, dass wir unseren Tribut an dein edles Selbst entrichten können.«
Senwosret zupfte an einem seiner langen Ohren. »Wie soll ich die Priester ernähren, wenn das Volk mir nicht beisteht?«
Der Alte richtete sich auf. »Amun-Re wird für die Seinen sorgen. Als Männer müssen wir unsere Familien ernähren. Das ist der Weg der Ma’at.«
Ipiankhu beugte sich vor und flüsterte Pharao etwas zu. Die königlichen Brauen wurden nach oben gezogen, dann wanderte Senwosrets Blick sinnierend über die versammelten Männer. Pharao kniff die Augen zusammen und kreuzte Krummstab und Geißel vor der Brust. »Der Weg der Ma’at ist es, das zu tun, was Pharao, ewig möge er leben!, befiehlt!«
Der Alte trat zurück und schluckte. »Sehr wohl, Meine Majestät.«
»Doch Pharao lässt Gnade walten. Ich biete euch folgende Strafe dafür an, dass ihr eure Steuern nicht zahlt: Die Länder, die ihr besitzt, werden Eigentum der Doppelkrone. Ihr werdet dort leben, das Land bestellen und es wieder fruchtbar machen, sobald die Götter beschließen, uns eine gesunde Überschwemmung zu schicken. Bis zum Ende der Hungersnot werdet ihr keine Steuern zahlen. Doch sobald der Fluss wieder in seinem Bett fließt, werden mir vierzig Prozent eurer gesamten Ernte zustehen. Für alle Zeit.«
Cheftu blickte in die sorgfältig geschminkten Gesichter der Bittsteller. Verwirrung wechselte mit Verärgerung ab. »Meine Majestät«, ergriff ein anderer das Wort, »wir leben von unserem Land. Was sollen unsere Kinder erben, wenn nicht unseren Grund?«
»Ihr werdet weiterhin von eurem Land leben, ihr und eure Kinder und Kindeskinder. Ihr dürft auf dem Land arbeiten und leben, doch von allem, was ihr erntet, werden vierzig Prozent in meinen Lagerhallen landen. Auf diese Weise werdet ihr Pharao dafür danken, dass er euch gerettet hat, als ihr mit Sicherheit gestorben wärt.«
Sie saßen in der Falle. Sie würden die Steuerbefreiung mit der Sklaverei bezahlen müssen. Familien konnten
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