Die Seherin von Knossos
der etwa Nikos Taillenumfang entsprach. Der Bogen war aus rotem Sandstein zusammengesetzt. Als Niko die eigenartigen Bauten studierte, spürte er plötzlich etwas in der Luft, deutlich wie Blumenduft oder das leise Muhen näher kommender Kühe.
Niko vermochte niemanden zu entdecken. Verängstigt und von unverständlicher Ehrfurcht ergriffen, kniete Niko nieder. Es war überheblich, hier einzudringen und Forderungen zu stellen, begriff er. Was ihm vollkommen unkompliziert vorgekommen war, etwa dem Füttern des Apis-Stieres vergleichbar, erwies sich plötzlich als echtes Problem. Das Ding, das hier wohnte, würde und konnte man in keinen Käfig stecken, begriff er. Es brauchte weder Nikos Futter noch seine Fürsorge.
Es war schrecklicher als alles, was man auf Aztlan kannte.
»Vergib mir«, flüsterte er in den Wind und die Felsen. Die Aztlantu hatten ihr Recht verwirkt, Bitten zu stellen. Niko begriff dass er eigentlich verschwinden sollte. Dieser Gott war zu mächtig, zu schrecklich, als dass er mit ihm verhandeln konnte. Wieder versuchte Niko, sich aufzurichten, und wieder blieb er auf den Knien, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Er brachte nicht die Kraft auf, sich zu bewegen.
Hier herrschte Frieden; ohne Fragen, ohne Antworten, nur das Gefühl, dass all das nicht wirklich wichtig war.
Eine lindernde, sanfte Brise strich durch seine Haare und reizte die Wunde auf seinem Kopf. Seine Augen brannten hinter den geschlossenen Lidern, und doch zögerte er, sie zu öffnen. Das Gefühl, dass hier etwas war, hatte sich noch verstärkt, und Niko war überzeugt, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um ... Es zu berühren.
Er begann zu zittern.
Bilder blitzten in seinem Kopf auf: seine gramgebeugten Eltern, die ihrem Sohn das bestmögliche Leben gegeben hatten, indem sie ihn weggegeben hatten; die junge Frau, die ihm als Halbwüchsigen liebevoll ihren Körper dargeboten hatte und die er mit einer kaltschnäuzigen Erwiderung zum Weinen gebracht hatte; die Mitstudenten, die er voller Stolz ausgestochen und zu seinem Vergnügen auf verstohlene Weise gedemütigt hatte. Und zuletzt Phoebus, den er auf eine Weise geliebt und gehasst hatte, über die er nicht nachzudenken wagte.
Zum ersten Mal, seit er zwischen den roten Säulen in der Halle der Skolomantie gestanden hatte, brach Niko zusammen und weinte. Die verheimlichte Scham, der verborgene Stolz und die Angst - die ständige Angst - brachen sich freie Bahn. Die Tränen glitten über die winzigen, zu Mustern ausgelegten Kiesel, während er, zu einem Ball eingerollt, schluchzend am Boden lag.
Als er viel später die Augen wieder aufschlug, lag die Lichtung in rosafarbenem, goldenem und lilafarbenem Dunst. Sonnenuntergang, dachte Niko. Er hörte Wasser sprudeln und folgte dem Geräusch zu einem kleinen Bach. Nachdem er sein Gesicht wie auch die Kopfwunde gewaschen und so viel getrunken hatte, dass ihm der Bauch spannte, lehnte er sich an den Fuß eines Felsens und versuchte abzuschätzen, wo er wohl war.
Auf ein Geräusch hin drehte er den Kopf - und schrie auf.
Keine Handbreit vor seiner Nase grinste ein Skelett. Wie eine Krabbe wich er zurück und kämpfte gleichzeitig den Drang nieder, davonzulaufen.
Er war neben einem Höhleneingang gesessen. Einer Höhle voller Skelette.
Sie waren nicht dem Brauch gemäß in Tholoi unter der Erde begraben, versehen mit goldenen Begräbnissymbolen in Form eines Schmetterlings oder Oktopus, sondern lagen wie Papyrusrollen in Fächern nebeneinander. Sie trugen Anhänger statt Totenmasken, und die Zeit hatte ihre Gesichter längst dahinschmelzen lassen. Wieso hatte man sie derart ehrlos behandelt?
Bebend beugte Niko sich über eines der Skelette und blies den Staub weg, der das Medaillon bedeckte. Der erste Teil war nicht mehr zu entziffern, doch der Schluss, in der alten aztlanti-schen Schrift verfasst, war noch lesbar. »Jawan, der ruhende Sohn Japheths, Sohn von Noach, der die Wasser zähmte.«
Blinzelnd fuhr er mit den Fingern die Lettern nach. Ein einziger Mensch, denn Jawan und seine Gemahlin waren schiffbrüchig. Hatte er die Toteninsel gefunden? Waren dies die sterblichen Überreste Jawans? Mit zusammengebissenen Zähnen schob Niko die Knochen beiseite und untersuchte die anderen Skelette. Keine Verbindungssteine.
Aber er hatte die richtige Insel gefunden!
Ganz langsam kehrte er auf die Lichtung zurück, unter den Nachthimmel, der zusätzlich durch den Staub des Berges Kalliope verdüstert wurde. Wo
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