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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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Bittsteller standen, die Votivgaben vor sich haltend wie gefallene Sterne. Unter geflüstertem: »Die Sibylla!«, »Die Priesterin des Windes«, und ihren anderen Titeln trat Sibylla bedächtig in die Mitte der Höhle.
    Der Erdphallus in der Höhle wurde von einem schulterhohen Stalagmiten gebildet, der etwa denselben Umfang hatte wie sie. Sibylla legte ein Stück Mohngummi auf ihre Zunge und lehnte sich gegen den Stein. Wenige Augenblicke später spürte sie, wie sich köstliche Lethargie in ihrem Körper breit machte.
    Komm zu mir, Kela, dachte sie. Ich bin offen; lass mich deinen göttlichen Webstuhl sehen. Lass mich die Zukunft dieser Kinder weissagen! Die Dunkelheit in der Höhle schien sich aufzuhellen, bis sie schließlich die Gesichter der Bittsteller erkennen konnte.
    Größtenteils waren es Frauen; sie waren gekommen, um zu erfahren, wann sie ein Kind empfangen würden, welchen Namen sie dem Kind in ihrem Bauch geben sollten, was sie mit ihren geborenen Kindern anfangen sollten. Sibylla antwortete ganz langsam, und ihre Worte bildeten ruhige, geordnete Anweisungen. Am Ausgang des umfriedeten Labyrinths legten die Bittstellerinnen Geschenke für sie nieder.
    Schlaf leckte an ihrem Geist, und Sibylla lehnte sich schwerer an den Stalagmiten, bis sie spürte, wie der Stein sie wiegte und tröstete. Ihre Antworten wurden weniger klar.
    Sprich zu mir, bat sie. Lass es mich wissen.
    Wie eine feine Klinge dickes Leder durchtrennt, so bohrte sich das Wissen in ihren berauschten Dämmerzustand.
    Feuer. Blut. Staub.
    Sibylla sah Berge, schwarz und rot von Lava. Einst üppige grüne Bäume waren zu schwarzen Stumpen verglüht. Die
    Blumen waren verwelkt, Vögel lagen schwarz und tot herum, das Obst war zu Kohle versengt und lag am Boden. Nichts rührte sich. Nichts atmete.
    Gegen ihren Willen wurde sie vorwärts gezogen. Sibylla fand sich nicht mehr zurecht, denn das Meer war unter einer grauen Felsmasse verschwunden. Die Luft stank schwer nach Schwefel. Zeugnisse von Menschen - ein kaputter Topf, ein Stofffetzen, eine Holzpuppe - lagen wie makabres Saatgut über die Erde verstreut.
    Sibylla stand an einer Klippe und sah hinab.
    Wo sich einst ein Berg erhoben hatte, gab nun ein klaffendes Loch den Blick in die Wunde der Erde frei. Sie drehte sich weg und blickte zurück auf die Felder. Doch da waren keine Felder mehr, keine Obstbäume, keine Häuser, keine Menschen. Es war ein wüstes Land; nichts regte sich, nicht einmal eine Schlange, nicht einmal eine Spinne.
    Sag es ihnen. Die Worte dröhnten durch ihre Knochen.
    Das konnte unmöglich die Zukunft sein, dachte Sibylla. Das konnte unmöglich ihr Land sein.
    Sag es ihnen.
    Lass mich los!, schrie Sibylla. Lass mich in Ruhe.
    Sag es ihnen!
    Sie schlug die Augen auf und sah sich einer Schar von Frauen mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen gegenüber.
    Die Höhle war zu eng.
    Sie brauchte Luft, sie musste durchatmen. Sibylla drängte durch die Frauen und floh, über die getöpferten Votivfiguren von Vögeln, Stieren, Schmetterlingen und Menschen stolpernd, aus der Höhle.
    An der Schwelle hielt sie einen Augenblick inne, denn sie hatte Angst, ihre Vision könnte sich bewahrheitet haben.
    Die Sonne blendete sie, darum rieb sie sich die Augen, bevor sie sich umsah.
    Grüne Felder, der Ruf eines Vaters nach seiner Tochter, das ferne Blöken der Schafe.
    Bebend sank Sibylla in die Knie.
    Aus Erleichterung oder Angst?
    Das Glauben fiel Niko schon erheblich schwerer, als er zwei Tage später immer noch auf der Insel festsaß. Er ging am Strand auf und ab, um unter dem Treibholz und den Bimssteinblöcken nach etwas Nützlichem Ausschau zu halten. Wenn er nur ein einigermaßen großes Holzstück fände, könnte er sich ein Boot bauen.
    Vorausgesetzt, er fand auch eine Klinge, schränkte er ein.
    Stattdessen waren andere Überreste aus dem Leben der Sippenangehörigen an den Strand gespült worden: Metalltöpfe, Leinenlaken, sogar ein kaputter Tisch. So sehr Niko sich auch anstrengte, er konnte sich nicht entsinnen, wo diese Insel von Arachne aus lag. Denn seine Tafel tauchte nicht wieder auf.
    Die Steine lagen sicher verwahrt in ihrer Kiste, wo sie, wenn sie weit genug voneinander entfernt waren, auch still blieben. Trotzdem hörte er im Geist immer noch ihr Drehen. Dreht euch nicht zu sehr, dachte er. Ihr werdet für wichtigere Fragen gebraucht.
    Wenn du mich retten willst, erklärte er dem Gott gereizt, dann tu es bitte bald. Ich habe vollbracht, weswegen ich

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