Die Seherin von Knossos
konnten die Steine nur sein? Niko lehnte sich gegen den Altar in der Mitte und fühlte sich plötzlich schrecklich allein. Kein Laut drang durch die Nacht, dennoch stellten sich seine Nackenhaare auf.
Da draußen war etwas. Vor Angst schaudernd, kauerte er sich mit fest zusammengekniffenen Augen dichter an den Altar.
Der Wind schien zu ihm zu sprechen. »Du hast gefragt, du sollst erhalten. Du hast gesucht, ich habe dir geholfen zu finden.« Das rhythmische Klopfen des Blutes in seinen Adern dröhnte ihm in den Ohren, bis Niko begriff, dass er etwas ganz anderes hörte.
Das Geräusch aus seinem Traum!
Unter dem Altar fand er die eigentümlich geformte Kiste. Vorsichtig hob er den spitz zulaufenden Deckel ab: Die Steine lagen darunter. Sie leuchteten nicht wirklich in verschiedenen Farben, trotzdem spürte Niko die düstere Urteilskraft des einen und die helle Gnade des anderen. Die Symbole der alten Schrift waren darin eingeschnitten, jene archaischen Zeichen, die verwendet worden waren, ehe der Rat beschloss, dass die Sprache in Symbolen wiedergegeben werden sollte: in Häuten, Fischen, Menschen, statt lediglich verschieden angeordneten Zeichen. Doch Niko kannte diese Zeichen, die geheiligten Zeichen.
Er steckte die Hand in die geheimnisvoll glühende Kiste und fasste nach den Steinen. Als er sie in seiner Hand schüttelte und dann gegen die Kiste rollen ließ, sah er sie im Fallen rotieren und aufblitzen. Bei jedem Wurf fing sich das Licht in bestimmten Buchstaben. Schließlich konnte er ganze Worte und Wortketten ausmachen.
»S-A-G-E-D-E-N-M-E-N-S-C-H-E-N-S-I-E-M-Ü-S-S-E-N-
F-L-I-E-H-E-N-S-I-E-H-A-B-E-N-V-E-R-G-E-S-S-E-N.«
»Was vergessen?«, fragte Niko und warf die Steine erneut.
»D-A-S-S-I-C-H-D-E-R-B-I-N-D-E-R-G-I-B-T-U-N-D-B-E-
S-C-H-Ü-T-Z-T.«
Niko fühlte sich ins Herz getroffen. Der Gott, der ihnen alle Geheimnisse der Erde wie auch des Meeres anvertraut hatte und den Aztlan vergessen hatte, genau wie es in der Geschichte hieß. Nur zwei Gesetze, und Aztlan hatte beide gebrochen. Niko legte die Steine in den Behälter zurück und setzte den Deckel wieder darauf. Sie klapperten lärmend. Also folgte Niko der Bitte, die er in seinem Geist spürte, holte sie aus der Kiste heraus und steckte sie in seine Schärpe. Sie bewegten sich weiter.
Aztlan war verziehen worden. Dieser große Gott, der ihnen alles gezeigt hatte und dennoch vergessen worden war, gab ihnen noch eine Chance. Niko begriff, dass solche Milde mehr Stärke erforderte als jede Härte.
Es brauchte mehr Beherrschung und Macht zu vergeben als zu bestrafen, mehr Kraft, gütig zu bleiben, vor allem jemandem gegenüber, der vom Weg abgekommen war. Er hatte den Auftrag, der ihm anvertraut worden war, erfüllt. Dieser Gott wollte zu ihnen sprechen. Er würde sie retten. Niko musste nur an ihn glauben.
KAPHTOR
Sibylla lächelte den Bittsteller an. Es war schön, wieder über den eigenen Körper zu bestimmen. Sie war froh, dass der Skia, der Eindringling, gerade ruhte. Dies war die Welt, die sie kannte, eine Welt, in der die Worte einen Sinn ergaben und in der ihr Geist nicht mit Bildern von silbernen Vögeln befleckt wurde, in deren Leib lauter Menschen saßen, von Schrifttafeln ohne Zwischennähten oder einer Prophezeiungs-Schachtel, die jedes Bild höchstens ein paar Herzschläge lang zeigte.
Jawohl, hier in Eleuthia fand Sibylla ihren Frieden.
Auf der Wiese vor ihrer Höhle wuchs hellgrün das frische Gras. Sie war eben von Knossos aus die paar Henti über die Felder hierher gewandert. Kaphtori schüttelten die letzten Oliven von den Bäumen und ließen die Früchte auf einem Kissen aus Schafsfell landen, ehe sie aufgesammelt, zerquetscht, zermahlen und zu Öl verarbeitet wurden.
Der Frühling nahte; die Zeit des Stieres stand vor der Tür. Die Winzer waren damit beschäftigt, die Rebstöcke zurückzuschneiden und die toten Triebe als Opfer an Kela zu verbrennen, zum Dank dafür, dass sie den Wurzeln erlaubt hatte, den Winter zu überleben. Der Winterweizen fing mit seinen goldenen Halmen das hellere Licht ein und wetteiferte dabei mit den Mandelplantagen, auf denen sich schon die ersten rosafarbenen Blüten zeigten.
Rote und weiße Anemonen, gelber Sauerklee und blaue Lupinen standen vereinzelt auf den Wiesen.
Sibylla ließ ihren Umhang an der kleinen Wachhütte vor dem Höhleneingang und trat in die Höhle. Sie war tief, hatte einen einigermaßen ebenen Boden und eine gleichmäßige Decke. Lichtflecken zeigten ihr an, wo die
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