Die Sehnsucht der Konkubine
eigenartig in dem Raum. Eine seltsame Mischung aus Lavendel, Desinfektionsmittel und etwas Unterschwelligem, das irgendwie unappetitlich war. Doch Lydia beschwerte sich nicht, denn sie hatte schon Schlimmeres gerochen. Viel Schlimmeres. Der Waschraum gehörte unter all den Gemeinschaftsbädern, die sie in letzter Zeit erlebt hatte, noch zu den besseren. Die Wände waren weiß gefliest, schwarz marmorierte Fliesen bedeckten den Boden, und an jeder Wand waren drei Waschbecken montiert. Ja, eines davon hatte einen Sprung, und beim anderen fehlte der Stöpsel, wahrscheinlich gestohlen, doch alles war makellos sauber einschließlich der Spiegel, die über den Becken hingen. Ein hoher Schrank in der Ecke stand halb offen und gab den Blick auf einen feuchten Wischmopp, einen Eimer und eine Flasche mit Desinfektionsmittel frei. Offenbar war trotz der frühen Stunde bereits geputzt worden.
Lydia strich sich das widerspenstige Haar aus dem Gesicht, ging auf eines der Waschabteile zu und warf nur einen beiläufigen Blick auf die Gestalt, die vor dem Becken stand. Sie erstarrte. Es handelte sich um eine Frau um die dreißig. Sie war durchschnittlich groß und schlank und trug einen burgunderroten Morgenrock aus Wolle und schicke Pantoffeln an den Füßen. Der goldene Ehering an ihrer rechten Hand wirkte viel zu wuchtig für die schmalen Finger. Doch nichts davon nahm Lydia wirklich wahr. Was sie sah, war das dunkle, seidige Haar, das sich die Frau im Nacken zu einem lockeren Knoten geschlungen hatte, und ihr schmaler, langer, zerbrechlich wirkender Hals.
Einen Moment lang schienen Lydia die Sinne zu schwinden, denn sie glaubte, ihre Mutter vor sich zu sehen, die von den Toten auferstanden war. Valentina, die gekommen war, um nach ihrem vermissten Ehemann Jens Friis zu suchen.
Ein scharfer Schmerz bohrte sich wie ein Eispickel zwischen Lydias Rippen und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Abrupt wandte sie sich ab und betrat die erste Toilettenkabine, schloss die Tür und nahm Platz. Das war nicht Valentina, natürlich nicht. Die Vernunft sagte ihr, dass sie das nicht sein konnte. Es war nur jemand im gleichen Alter, mit ähnlichem Haar. Und mit dem gleichen, milchweißen, verletzlichen Hals.
Lydia schüttelte den Kopf. Valentina war tot. Sie war letztes Jahr in China gestorben. Weshalb also spielte die Fantasie ihr diesen Streich? Ihre Mutter war einer Handgranate zum Opfer gefallen, die für jemand anderen bestimmt gewesen war; sie war einfach nur eine harmlose Passantin gewesen. Lydia hatte ihren zerschmetterten, leblosen Körper selbst in den Armen gewiegt. Warum also das hier? Diese plötzliche Verwirrung? Sie schlug eine Hand vor den Mund, um die Schreie zurückzuhalten, die in ihrer Kehle hochstiegen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in der stickigen Toilettenkabine blieb, doch es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Irgendwann entriegelte sie die Tür, ging zu einem der freien Waschbecken, ließ kaltes Wasser über ihre Hände laufen und benetzte damit ihr Gesicht. Ihre Wangen brannten. Zu Lydias Verwunderung war die Frau neben ihr immer noch dabei, sich die Hände zu waschen. Sie bemühte sich, nicht in den Spiegel zu schauen, weil sie ihr eigenes Gesicht nicht sehen wollte, geschweige denn das der anderen Frau. Doch ihr Blick wurde wie magisch von den Bewegungen angezogen, die die Frau neben ihr machte.
Mit entschlossenen, rhythmischen Strichen zog die Frau eine hölzerne Nagelbürste über ihre Arme und Hände, von den Ellbogen bis zu den Fingerspitzen, wieder und wieder. Sachte und ruhig, doch ohne Unterlass. Dabei drehte sie die Arme hin und her, damit die eingeseiften Borsten ebenso die weiche Unterseite streiften wie die obere Seite, zuerst den einen Arm, dann den anderen. Und schließlich wieder den ersten. Lydia war außer Stande, den Blick abzuwenden. Die Frau benutzte ein Stück Lavendelseife, dessen Duft den ganzen Waschraum erfüllte, und auf dem Wasser im Becken hatte sich eine dicke Schaumschicht gebildet. Russische Seife konnte es folglich nicht sein, das war gewiss, denn mit der fettigen Kernseife, die es in Russland zu kaufen gab, war es fast unmöglich, Seifenschaum zu produzieren. Die hier sah eher französisch aus, als käme sie aus einem der Luxusläden, zu denen nur die Elite der Kommunistischen Partei Zugang hatte. Ein Teil der Seifenblasen schimmerte verdächtig rot, und die Haut an den Armen der Frau wirkte aufgescheuert.
Ohne von ihrem Tun aufzublicken, sagte die Frau: »Alles in
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