Die Sehnsucht der Krähentochter
getäuscht,
sagte sich Bernina in Gedanken. Und war doch vom Gegenteil überzeugt. Sie
musterte den Fremden, der sich nicht von seinen Begleitern unterschied. Jung
war er, vielleicht Anfang 20, recht groß und schlank. Schwarz die Augen,
schwarz das Haar. Soldatenstiefel und Degen, ein ausladender Federhut und
natürlich der rote Umhang mit der goldenen Rose rechts und links auf dem
hochstehenden Kragen.
Wer bist du?, fragte ihn
Bernina, ohne einen Laut zu äußern, nur mit einer unmerklichen Bewegung ihrer
Lippen.
Noch im gleichen Moment
fiel ihr allerdings auf, dass sie selbst ebenfalls von Augen angesehen wurde.
So wie bereits öfter. So wie auch in der furchtbaren Nacht, als die
Scheiterhaufen in Flammen aufgingen.
Egidius Blum sprach
immer noch, und während er zum wiederholten Male die Arme ausbreitete, hielt er
seinen Blick geradewegs auf Bernina gerichtet. Lange sah er sie an, sehr lange,
und sie starrte zurück, versuchte dabei all die Verachtung zu offenbaren, die
sie seit den Geschehnissen auf dem Weidenberg für ihn empfand.
Ein einziges Mal nur
hatte er sie in den zwei Jahren angesprochen, in denen er in Teichdorf war. Es
war eine unverfängliche Unterhaltung nach einem Sonntagsgottesdienst gewesen.
Danach hatte er nie wieder das Wort an sie gerichtet – doch viele seiner Blicke
hatten ihr gehört. Sie hatte jeden einzelnen davon gespürt, und jeder einzelne
war ihr unangenehm gewesen.
Nun gab Blum das Wort an
den Kardinal weiter, der erneut müde ins Nichts blinzelte, um dann das zu tun,
weshalb er gekommen war. Mit einem kurzen Gebet und ein paar Tropfen Weihwasser
spendete er den Segen für die Kirche.
Zum ersten Mal
erschallte das erhabene Geläut der neuen Glocke. Pestkreuze wurden aufgestellt
und Spenden aus Brot, Fleisch und Eiern an einige der Ärmsten verteilt. So
sollte der Schwarze Tod ferngehalten werden.
Ein weiteres Gebet
Egidius Blums folgte, doch seine Stimme wurde plötzlich von den donnernden
Hufen eines Pferdes verdrängt. Sämtliche Köpfe zuckten zur Seite, und jeder
Blick lag auf dem Mann, der die Hauptstraße entlangritt. Er saß aufrecht im
Sattel, die Augen geradeaus, den wuchtigen Oberkörper gestrafft, ohne die Menge
zu beachten. Beim Galopp rutschte die Kapuze in den Nacken und gab den Kopf
frei. Lange blonde Haare wirbelten durch die Luft. Im nächsten Moment war er
nicht mehr zu sehen, doch das Hufgetrappel konnte man noch eine ganze Zeit
hören, ehe es verklang.
»Den haben wir
hoffentlich zum letzten Mal in Teichdorf gehabt«, hörte Bernina einen Mann in
der Menge sagen, der sich sogleich bekreuzigte.
»Falsch!«, meldete sich
jemand anders zu Wort. »Der Kerl bleibt uns erhalten. Er reitet wohl gerade zu
einer ganz besonderen Jagd. Wie ich gehört habe, ist er nicht nur Henker,
sondern auch der Wolfsjäger. Anscheinend ein Mensch mit vielen Begabungen.«
Das rief weitere
Äußerungen hervor, die erst verebbten, als Blum mit noch nachdrücklicherer
Stimme mit seinem Gebet fortfuhr. Es sollte das letzte an diesem Tag sein.
Gleich anschließend setzte Musik ein. Erneut Trommelschläge und Fanfaren,
vereinzelte Hochrufe, dann die Klänge von Lauten und Leierkästen. Einige der
Musikanten versuchten, auch mit Pantomime und Überschlägen zu unterhalten, und
Bernina und Anselmo erinnerten sich sofort an die schöne Zeit, in der sie mit
den Gauklern von Stadt zu Stadt gereist waren. Körbe mit Zuckerbrot und
Pfeffernüssen wurden gereicht, dunkles Bier floss schon jetzt in Strömen.
Später würde es noch Wettschießen mit Armbrust und Bogen geben, Stelzenlauf,
Ringewerfen und Tauziehen.
Bernina allerdings hörte
auf einmal nichts mehr von dem Lärm um sie herum. Sie nahm auch nichts von der
Ausgelassenheit wahr, in die sich die Menschen von Teichdorf fallen ließen.
Vorbei an den Schindeldächern der Häuser blickte sie auf den Weidenberg: in
nacktem Sonnenlicht die Aschehaufen im Rispengras. Es schnürte ihr die Kehle
zu.
Wind war aufgekommen,
die ersten sanften, warmen Böen dieses Tages. Womöglich war es nur ihre
Einbildung, doch Bernina meinte zu sehen, wie die Asche der Scheiterhaufen
herangeweht wurde und in Spiralen über den Häuptern der Menschen wirbelte. Von
Neuem sah sie die züngelnden Flammen jener schrecklichen Nacht. Es ist noch
nicht vorüber, dachte sie auf einmal, das war nur der Anfang.
*
Noch mehr von den Fremden kamen. So wie Egidius Blum es
angekündigt hatte. Nur zwei Tage nach der Feier vor der größer und
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