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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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aufbrechen.« Abrupt erhob er sich. »Es
geht bestimmt bald los.«
    Nicht einmal während
eines hellen, von Sonnenlicht überfluteten Tages verlor der dicht zugewachsene
Wald dieses Bedrohliche. Hier war die Luft noch nicht erfüllt von der
überfallartig über das Land geschwappten Hitze. Es roch feucht. Moos klebte an
den Stämmen, wucherte über den Boden. Nur die Geräusche ihrer von nasser Erde
gedämpften Schritte waren zu hören. Sogar die Vögel schwiegen.
    Bernina ertappte sich
dabei, wie sie immer wieder zwischen Dornensträuchern und tief hängenden Ästen
hindurchspähte. Die Angst vor den Wölfen war zu einem ständigen Begleiter
geworden. Auch in der letzten Nacht, während sie wach gelegen hatte, in Bann
gehalten von den Geschehnissen auf dem Weidenberg, hatte sie gelegentlich das
Geheul dieser Tiere gehört. Mit einiger Hoffnung dachte sie an den Wolfsjäger,
der in Teichdorf erwartet wurde.
    Wiederum durchquerten
Bernina und Anselmo das Waldstück schnell, ohne diesmal jedoch in den
Laufschritt zu verfallen. Nach ihrem Gespräch in der Wohnküche hatte Anselmo
nichts mehr gesagt. Bei einigen raschen Seitenblicken stellte Bernina fest,
dass sich erneut diese Nachdenklichkeit in sein Gesicht verirrt hatte.
    Unbewusst atmete Bernina
durch, als sie den Wald hinter sich ließen. Kurz darauf, mit dem ersten Blick
auf den kleinen Ort, war es das Fest, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch
nahm. Schon auf einige Entfernung sah sie die Stofffetzen, mit denen die Häuser
geschmückt worden waren, farbige Punkte in der trägen vorsommerlichen Luft.
    Sie gelangten an die
Hauptstraße, durch die bereits viele Einwohner eilten, um nichts zu verpassen.
Noch ein Stück weiter, dann ging es nach links durch eine Gasse mit dem
einzigen Gasthaus, die zu dem Platz vor der Kirche führte. Ohne es eigentlich
zu wollen, liefen auch Bernina und Anselmo zügiger. Plötzlich blickte Bernina
auf, als würde ihr Blick auf merkwürdige Weise in eine bestimmte Richtung
gezwungen. Fast wäre sie mitten in der Bewegung stehen geblieben. Sie verspürte
ein Erschauern.
    Anselmo
hatte ihn nicht bemerkt, aber sie sah den Mann, der sich an der Nordseite des
Gasthauses, beschattet von einem der beiden bauchigen Erker, an seinem
Reitpferd zu schaffen machte. Er war so groß, dass sein Kopf den Erker beinahe
zu berühren schien. Noch breiter als in der Schreckensnacht kamen ihr seine
Schultern vor. Trotz der Wärme war er erneut in diesen schwarzen Kapuzenumhang
gehüllt. Und abermals stahlen sich ein paar Wirbel des langen Haares daraus
hervor. Jetzt erst erkannte Bernina, dass er nicht graues, sondern blondes Haar
hatte – nur eine einzige Strähne schimmerte in eisengrauer Farbe. Er bückte
sich und straffte mit starken Händen den Sattelgurt des Tieres, um sich gleich
wieder zu seiner vollen Größe aufzurichten.
    Sofort
wurde Bernina von seinem Blick erfasst – einem Blick aus Augen, wie sie nie
zuvor welche gesehen hatte. Selbst mit dem Abstand von mehreren Schritten
strahlte das beinahe metallene Grün darin so kraftvoll, als wäre sein Gesicht
nur eine Handbreit von ihrem entfernt. Dieser Blick traf sie, schien sie
regelrecht zu berühren. Auch später sah sie den Mann in Gedanken noch vor sich:
seine harten Wangenknochen, die starke, nach vorn drängende Nase und der blonde
Schnurrbart, der sich weit hinab zu dem kräftigen Unterkiefer zog.
    Bloß ein paar Momente,
in denen jene grünen Augen ihre haselnussbraunen suchten und fanden, und schon
war Bernina zusammen mit Anselmo an dem Henker vorübergegangen. Das Erschauern
in ihr ließ jedoch erst nach, als sie den mit Kopfstein gepflasterten Platz vor
der Kirche betrat, der mit Hunderten von frisch gepflückten Blumen bestreut
worden war.
    Zahlreiche
Leute hatten sich hier versammelt. Es waren so viele, dass beschlossen worden
war, die Weihzeremonie vor dem Kirchportal abzuhalten. Bürger, Bauern, Gesinde.
Alle mit neugieriger Erwartung im Gesicht, manche noch schnatternd, andere mit
geschlossenen Lippen. Die Sonne kroch ein wenig höher, die Hitze legte sich in
großen unsichtbaren Wolken auf die Leiber.
    Bernina
sah zwischen Köpfen, Hüten, Hauben und Schultern hindurch und erblickte Pfarrer
Egidius Blum. Er schien derart konzentriert zu sein, dass er diesen für ihn so
wichtigen Tag wohl nicht einmal genießen konnte. Anders als sonst trug er
feinere Kleidung, so wie man es von Geistlichen kannte. Nicht die ausgefransten
Bastschuhe, nicht das einfache, längst

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