Die Sehnsucht der Krähentochter
Loslassens. Jeder Tag war ein Tag für den Herrn
und seine Lehren. Fasten, das ganze Leben lang. Lachen war verboten. Überkam es
einen doch einmal, wurde es mit Schlägen ausgetrieben. Ja, zugerichtet. Oder
noch besser, abgerichtet. Die sieben Bußpsalme beten, jeden Tag, jeden Tag. Der
liturgische Gesang. Ich kam in ein Stift, in dem ich in den Chor zur Ausrottung
Andersgläubiger einfallen musste. Und ich war gut. Ich war gut.« Mit offener
Verzweiflung nickte Egidius Blum vor sich hin. »So gut, dass ich in den Genuss
eines Stipendiums kam. Sechs Jahre im Priesterseminar. Und ich war weiterhin
gut. Exorzismus und Geißelung. Ein weiterer Pfad zur eigenen Gemeinde. Doch ich
legte ihn zurück, und als ich dort war, sollte meine Gemeinde ein Vorbild
sein.«
Zu
dritt waren sie, ohne dass einer von ihnen dazu aufgefordert hätte, ganz
langsam zurück zu dem Gebäude gegangen. Sie drangen ein und fanden sich im
Speisesaal wieder, wo Blum immer noch sprach, als hätte er seit Monaten
unablässig geschwiegen. Was womöglich auch der Fall war.
»Gefahr drohte«, sagte
er gerade, und seine Worte hallten dumpf gegen die kalten Mauern. »Gefahr durch
französische Truppen. Angst brach aus, große Angst. Ich sah mich gefordert. Und
dieser Mann mit seinem Gefolge kam mir gerade recht. Die Söldner mit der
goldenen Rose. Zunächst waren sie nur ein notwendiges Übel für mich – Schutz,
der Leben retten und die Gemeinde vor dem Untergang bewahren sollte. Doch
leider merkte ich nicht, dass ich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte.«
Weder Bernina noch Norby
unterbrachen ihn. Hielt er einmal inne, warteten sie, bis von Neuem Worte aus
ihm drangen, getrieben von einem Zwang, der ganz deutlich wahrnehmbar war.
»Denn diese Spanier«,
sprach Blum weiter, »waren nichts als Verbrecher. Sie verbreiteten zusätzlich
Furcht, und die Bürger, all die rechtschaffenen, überforderten Leute, wussten
nicht, was sie tun sollten. Außer die eigene Angst auf andere Schultern
abzuladen, weiterzureichen. Jeder wusste, wie eifrig ich für meinen Glauben
einstand, wie sehr ich die Lehren des Herrn verfolgte. Dass ich nichts duldete,
was dem Wort des Herrn widersprach. Der Anführer der Spanier, dieser Ernesto
Alvarado, nutzte meine Naivität aus, nutzte es aus, dass es für mich nur
Schwarz und Weiß gab. Er brauchte sich nicht einmal anzustrengen, um nicht nur
meine Gemeinde einzunehmen – was es an Besitz gab, wurde ihm auf dem Tablett
präsentiert. Denn jeder in Teichdorf sah auf einmal etwas, bei dem Hexerei im
Spiel war, jeder bezichtigte irgendwen. Und ich war es ja, der die Hexen und
Hexenmeister aus dem Weg räumte, vollauf überzeugt, das Richtige zu tun. Ja,
überzeugt und erfüllt und beherzt war ich.« Tränen standen mittlerweile in
seinen Augen. »Ich sah mich als denjenigen, der Teichdorf nicht nur Schutz
verschafft hatte, sondern auch den Glauben einpflanzte. Und wie ich das tat.
Ohne Kompromisse. Noch bestärkt von Alvarado, der immer wusste, was er sagen
musste, um mich am Laufen zu halten. Bis er meine Gemeinde immer mehr in der
Hand hatte. Schließlich auch mich. Ganz und gar.«
Er schnaufte laut auf
und suchte dann doch Berninas Blick. »Ich wollte keine billigen Ausflüchte, und
dennoch ist mir bewusst, dass es sich genau danach anhört.«
»Die Menschen hatten vor
Ihnen am Ende wahrscheinlich mindestens so viel Angst wie vor den Spaniern«,
sagte sie.
»Ja, heute weiß ich das.
Damals allerdings …« Erneut schnaufte er laut. »Damals hat mich mein Glaube
blind gemacht, statt sehend. Heute würde ich alles anders machen. Aber wer bin
ich, auf eine neue Gelegenheit zu hoffen?« Er schüttelte den Kopf. »Gott wird
mir kaum die Möglichkeit geben, noch einmal sein Wort zu verbreiten, bloß
anders, als ich es in Teichdorf tat. Jede Nacht sehe ich die Scheiterhaufen
brennen, jede Nacht aufs Neue. Ihr Name fiel immer wieder, Bernina.« Ganz kurz
nur wagte er es, sie zu betrachten. »Allein schon wegen dem Leben, das Ihre
Mutter führte. Dann noch die Sache auf dem Weizenfeld, die mir immer wieder
anders geschildert wurde. Die Sache mit den Krähen. Inzwischen klingt es auch
für mich lächerlich. Aber ich war mir sicher, dass mit Ihnen etwas nicht
stimmt. Mit Ihrer Mutter und Ihnen.«
Leise sagte Bernina zu
ihm: »Deshalb haben Sie mich immer schon auf so sonderbare Weise angesehen.«
Überrascht merkte sie,
wie Röte seine Wangen überzog – fast wie bei einem verschüchterten Jungen.
»Auf sonderbare
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