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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Sonnenlicht. Ihre Schritte wurden schneller, was der
Schwede auch gleich bemerkte. Als sie zusammen wieder den Innenhof betraten,
atmete sie erleichtert auf. »Wirklich ein merkwürdiger Ort«, sagte sie leise.
    »Ja.«
    Auf einmal wirbelte
Norby herum. Bernina erschrak so sehr, dass sie wie mitten in der Bewegung
innehielt, wie angewurzelt. Der Schwede dagegen rannte los. »Bleib hier!«, rief
er noch, dann war er schon wieder in dem Gebäude verschwunden, das sie eben
verlassen hatten.
    Sie hörte das Dröhnen
seiner Stiefelsohlen, das sich entfernte, leiser wurde, mit einem Mal ganz
verschwand. Die Fenster des Klosters schienen auf sie herabzustarren, die
neuerliche Stille schnürte ihr die Kehle zu.
    »Norby«, hörte sich
Bernina flüstern.
    Und erneut Geräusche.
Ein Laut wie ein Schlag mit der Faust. Und ein Körper, der auf dem Boden
zusammenbrach. Gleich darauf abermals der harte Rhythmus der Stiefel, jetzt
allerdings begleitet von leiseren, kaum hörbaren Sohlen.
    Unbewusst legte Bernina
die Hand auf ihren Hals, als würde sie damit leichter atmen können. Ihr Blick
lag gebannt auf der Tür, deren Rahmen sich nun mit der aufrechten Gestalt
Norbys füllte. Hinter sich zog er jemanden her, und mit hartem Griff
schleuderte er die Gestalt Bernina zu Füßen.
    »Mein Gott!«, stieß sie
hervor.
    Die Gestalt rappelte
sich mühsam auf. Ein löchriger, zerschlissener Umhang hüllte ihren Körper ein,
und eine Kapuze ließ so gut wie nichts von ihrem Gesicht erkennen. Unter dem
verschmutzten, schneenassen Umhangsaum kamen zerschlissene Bastschuhe zum
Vorschein, behelfsmäßig umwickelt von Leinenstreifen als zusätzlicher Schutz
gegen die Kälte.
    Norby packte die Kapuze
und riss sie so grob herunter, dass der Wollstoff einen Riss erhielt. »Ein
alter Bekannter«, sagte der Schwede. »Ich muss euch also nicht einander
vorstellen.«
    Ihre Augen erfassten den
gesenkten Kopf mit der weißlich durchschimmernden Glatze. Wild wucherte
schwarzgraues Haar um die Ohren, und der Bart, früher akkurat gestutzt, war
ebenfalls zu einem wirren strohigen Geflecht ausgewachsen, dessen Ende unter
dem Umhang verschwand.
    »Pfarrer Blum«,
flüsterte Bernina, als müsse sie sich selbst erst noch davon überzeugen, dass
der Anblick keine Sinnestäuschung war.
    Ganz langsam hob der
Angesprochene sein Gesicht. Tiefe Höhlen umschlossen die Augen, die an Schärfe
und Selbstgewissheit eingebüßt hatten. Falten um die Nasenflügel und scharfe
Furchen auf der Stirn. Die hageren Wangenknochen ließen keinen Zweifel an
schlechter und allzu spärlicher Ernährung. Die farblosen Lippen bewegten sich
und mit merkwürdigem Klang krochen die Worte aus der Kehle des Mannes: »So sehr
habe ich darauf gehofft, dass dieser Augenblick niemals kommen würde.« Ein
zaghaftes Räuspern. »Wenn Sie wüssten, wie ich mich davor fürchtete, Ihnen noch
einmal zu begegnen.«
    Bernina konnte ihn nur
anstarren, völlig sprachlos. Sie war es doch, die von Angst erfüllt gewesen
war. Sie war es, die einen Feind erwartet hatte, einen Gegner, einen Mann, der
kalt und grausam auf sie herabblicken würde. Und nicht ein hungerleidendes
Häufchen Elend.
    »Nie wieder wollte ich
einen jener Teichdorfer treffen«, fuhr Egidius Blum fort, »über die ich so viel
Leid gebracht habe.«
    »Das haben Sie«, fand
Bernina endlich ihre Stimme. »Doch diese Einsicht kommt zu spät. Viel zu spät.«
    »Das ist mir durchaus
klar.« Sein Blick glitt an ihr vorbei – er konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»So unglaubwürdig es Ihnen auch erscheinen mag: Die Absichten, aus denen heraus
ich handelte, waren keine bösen. Meine Ziele waren keine schlechten, nur war es
so, dass ich irgendwann von meinem Weg abkam, ohne es zu merken. Auf einen Weg
zusteuerte, der mich mitten ins Unheil führte. Der mich …« Blum verstummte.
»Ich will keine billigen Ausflüchte vorbringen, aber …« Erneut versagte ihm die
Stimme.
    Und für Bernina war das,
was sich gerade ereignete, noch immer unfassbar. Etwas hilflos sah sie zu Nils
Norby, der mit ruhigem Blick den Pfarrer betrachtete. »Sie wurden nicht ins
Unheil geführt«, sagte der Schwede zu Blum, »sondern Sie waren es, der das
Unheil brachte. Im Namen Ihrer Kirche.«
    Blum
nickte, ohne aufzublicken. »Ja, meine Kirche. Meine Welt. Seit ich zurückdenken
kann. Dreizehn Jahre war ich zugerichtet worden. Zuerst von den Jesuiten, schon
bei der Vorstufe zum Theologiestudium. Dann im Priesterseminar. Keine Sekunde
des Müßiggangs, kein Moment des

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