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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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ich werde
zu diesem Kloster gehen und um eine Audienz bitten. Ganz offen, ohne mich zu
verstellen. Und dann werde ich vorbringen, was in mir brodelt.«
    »Ich kann mir gut
vorstellen, dass der ehrenwerte Pfarrer Blum recht überrascht sein wird
angesichts dieser Bitte.«
    »Was auch kommen mag«,
wiederholte sie, »ich gebe nicht auf.«
    »Das weiß ich.«
    »Ich muss es versuchen.«
    Erneut sagte er: »Ich
werde bei dir sein.«
    Und plötzlich drückten
seine Lippen einen langen sanften Kuss auf ihr Haar. Bernina erstarrte. Doch
schon zog er sich wieder zurück, und sie blieb nach wie vor ganz steif liegen.
Verwirrt, vollkommen verwirrt. Es war, als könne sie seinen Mund noch auf sich
fühlen, und immer, wenn sie die Augen schloss, hörte sie Anselmos Stimme: Du
und dieser Mann. Du und dieser Mann.
    Scheinbar
erst mit dem zögerlich einsetzenden Tageslicht fand sie Ruhe, und als sie sich
schließlich aus ihren Decken wand, war sie allein im Wagen. Es brannte bereits
ein neues Feuer. Der über Nacht gefallene Schnee würde das Weiterkommen noch
ein wenig erschweren, aber der Himmel war blau – keine einzige Wolke mehr. An
diesem Tag war also mit besserem Wetter zu rechnen. Aber womit noch?
    Ein banges Gefühl machte
sich in Bernina breit, als sie zu den beiden Männern trat. Was mochte sie in
Kloster Murnau erwarten?
     
    *
     
    Das Blau des Himmels und das Schwarz des Gemäuers. Die flirrenden
warmen Sonnenstrahlen und die Eiseskälte, die von diesem Bauwerk ausging. Die
Ruhe und das plötzlich aufbrandende Krächzen einer Schar Krähen, die über
nackten Baumwipfeln davonflog.
    Wuchtig
die einzelnen Gebäude, verbunden von hohem Mauerwerk. Das einzige Tor wies nach
Osten, dorthin, wo die Sonne aufging. Starre. Nichts bewegte sich. Mögliche
umliegende Felder waren unter Schnee versteckt, der auch die Dächer weiß
gefärbt hatte. Dunkel die Fenster, abweisende, zornerfüllte Augen. Kein
Fuhrwerk, keine Menschenseele. Kein Pferdegewieher, kein Vogelgezwitscher.
Diese Stille. Unheimlich.
    »Vielleicht
hausen hier ja tatsächlich bloß ein paar Gespenster«, bemerkte Nils Norby mit
trockenem Spott. Doch diese paar Worte hatte er äußerst leise hervorgebracht.
    Zu
dritt hielten sie sich im Schatten der letzten Bäume verborgen, der Wagen und
die Pferde nicht weit dahinter im Wald. Bernina betrachtete das Kloster und
fast war ihr, als würde sie ein Schwindel erfassen. Schon nach dem Aufwachen
hatte sie sich unwohl gefühlt. Eine tiefe Gewissheit sagte ihr, dass das nicht
nur an der Anspannung lag, die größer geworden war, je näher sie ihrem Ziel
kam, sondern an etwas ganz anderem. Dieses Unwohlsein war nicht zum ersten Mal
aufgetreten.
    Erneut drang Norbys
Stimme leise zu ihr: »Bist du immer noch zu allem entschlossen?«
    »Das bin ich.« Sie
versuchte, ihren Worten Festigkeit zu verleihen, war sich aber nicht sicher, ob
es gelang. »Es gibt kein Zurück mehr. Ich muss es versuchen.«
    »Dann lass uns die
Pferde holen und losreiten.«
    Sie nickten einander zu.
    »Ich will nicht schon
wieder beim Wagen bleiben«, bat Baldus.
    »Das musst du aber«,
entschied Norby. »Es ist wichtig, dass jemand von uns außerhalb der Mauern ist.
Halte dich bereit. Wofür auch immer.«
    Der Knecht war
enttäuscht, aber er gab nach, wie sein Gesichtsausdruck erkennen ließ.
    »Danke, Baldus.« Bernina
legte ihre Hand auf seine Schulter.
    Nur kurz darauf näherten
sie und der Schwede sich in leichtem Trab dem Tor von Kloster Murnau. Noch
immer hielt diese eigentümliche Stille alles fest in ihrem Griff. Der Schnee
schluckte den Hufschlag. Allein ein Schnauben von Berninas Pferd unterbrach die
Lautlosigkeit für einen winzigen Moment.
    Ein
merkwürdiges Gefühl glomm in Bernina. Ihr Blick lag unablässig auf dem Tor, vor
dem sie und Norby die Pferde zügelten. Nirgendwo hatte sich ein Gesicht sehen
lassen, weder oberhalb des Mauerrandes noch an einem der Fenster. Der Schwede
stieg ab. Seine Faust trommelte einige Male an das schwere Holz. Dumpfe
Schläge, die im Nichts verhallten. Mit einem vagen Heben der Augenbrauen drehte
er sich zu Bernina um. Während sie ebenfalls vom Pferd glitt, legte er seine
Hand auf den kunstvoll geschmiedeten Riegel, der die beiden Portalhälften verschloss.
Das Eisen schrie auf, als wäre es seit langer Zeit zum ersten Mal wieder
berührt worden, doch es ließ sich bewegen.
    Nebeneinander, die
Pferde an den Zügeln führend, ließen sich Bernina und Norby von Kloster Murnau
schlucken. Ein leerer Innenhof

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