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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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erwartete sie. Windböen wurden von einer zur
nächsten Wand gewirbelt. Doch auch ihr Rauschen konnte der allgewaltigen Stille
nicht viel anhaben. Ein paar Schuppen zur Linken, rechts und geradeaus die
Gebäude, so schwarz und abweisend wie die Mauer von außen. Norby band die Tiere
an einem Zaun aus schiefen, morschen Brettern an, der wohl einen Kräutergarten
umschloss.
    »Hier ist niemand«,
hörte sich Bernina sagen. Ihre Stimme klang irgendwie fremd und verloren.
    »Wirkt ziemlich
verlassen.« Norby trat wieder neben sie. »Der Krieg scheint die Männer der
Kirche vertrieben zu haben. Und zwar nicht erst kürzlich. Sieht so aus, als
wäre das schon vor Monaten passiert.«
    »Vielleicht schon vor
fast einem Jahr, als General d’Orville mit seiner Armee zum ersten Mal nach
Baden vorstieß und überall Todesangst verbreitete. Das war die Zeit, als Blum
die Spanier um Hilfe für Teichdorf bat.«
    Lässig verschränkte
Norby die Arme vor seinem mächtigen Brustkorb. »Gut vorstellbar.«
    »Niemand hier«, sagte
Bernina erneut, als müsse sie sich das erst noch richtig klarmachen. »Kein
einziger Mensch.«
    »Nun ja, einer wohl
doch.«
    Der Schwede wies auf den
Teppich aus Schnee, der sich vor ihnen ausbreitete – fast unberührt, wenn man
von den Fußspuren absah, die von einem der Schuppen zu einer geöffneten Tür
führten, durch die sich eines der Gebäude betreten ließ.
    »Bestimmt ein armer
Kerl, der hier Zuflucht gesucht hat. Ein Deserteur oder ein Vertriebener.«
    »Hm.« Norbys Blick
wanderte über den Innenhof, schien sich jedes einzelne Fenster genau vorzunehmen.
    »Komisches Gefühl. Da
hatte ich solche Angst davor hierherzukommen – und nun das.«
    »Enttäuscht?«
    »Irgendwie schon.«
Bernina breitete die Arme aus. »Ich weiß nicht, wo ich jetzt ansetzen soll.«
    »Wenn wir schon den Weg
hierher auf uns genommen haben, sollten wir uns wenigstens etwas umsehen.«
    »Einverstanden.« Sie
lauschte in die Stille. »Auch wenn wir nichts Besonderes aufstöbern werden.«
    Sie folgten den
Fußabdrücken bis zur offenen Tür, die schief in ihren Angeln hing.
    »Da es nachts geschneit
hat«, murmelte Norby, »müssen die Spuren von heute morgen sein.« Seine Hand lag
auf dem Griff des Degens, der in der Scheide steckte.
    Trockene, kalte Luft
schwappte ihnen in den dunklen Gängen entgegen. Leere Zimmer. Die gleiche
gespenstische Ruhe wie überall rund um dieses Kloster. Ein großer Raum mit
nackten Bettgestellen, ordentlich aufgereiht. Plötzlich ein Geräusch – Bernina
zuckte zusammen. Der Schwede hastete zurück auf den Gang, doch nichts war zu
entdecken.
    »Was war das?«, wollte
Bernina flüsternd wissen. Die Enttäuschung von eben war einer Angst gewichen,
die auf einmal wieder in ihr war. Eine eigenartige Beklemmung, eine stärkere
Furcht als sogar bei der Begegnung mit Ernesto Alvarado in dem großen Zimmer im
Teichdorfer Gasthaus.
    »Ich weiß nicht,
vielleicht nur ein Tier, das über den Boden huscht. Eine Ratte. Hm.«
    Sie folgten einem
weiteren jener Gänge, die, wie sie nun feststellten, die einzelnen Gebäude
miteinander verbanden, überwanden eine Treppe und stießen auf eine Bibliothek.
Leere Regale. Doch in einer Ecke, auf dem Steinboden, ein paar vergessene
dickleibige Folianten, in abgewetztes Schweinsleder gebunden und mit Prägungen
verziert. Norby bückte sich, um unschlüssig darin blättern zu wollen. Doch er
erhob sich sofort wieder.
    Erneut ein Gang, erneut
die Leere lange nicht mehr benutzter Zimmer, erneut eine Treppe nach oben.
    Nichts. Gar nichts.
Außer Staub.
    »Das hat keinen Sinn«,
meinte Norby. »Wir verschwinden besser wieder.«
    »Ich habe so ein
sonderbares Gefühl.« Bernina blickte über ihre Schulter nach hinten. »Als wären
wir nicht allein hier.«
    »Lass uns nach unten
gehen.«
    Ihre Schritte auf den
steinernen Stufen, ihr Atem, Norbys Degen, der einmal das Geländer berührte –
jedes Geräusch hörte sich ganz anders an als gewohnt.
    Zurück im Erdgeschoss
kamen sie am Refektorium vorbei. Sie hielten an. Mit einem Achselzucken ging
Norby voran in den Raum. Bänke und Tische. Auf einem davon festgetrocknete
Lachen aus Kerzenwachs. Und noch etwas. Krümel. Norby nahm einen davon in seine
starken Finger und roch daran. »Brot«, sagte er. »Sogar recht frisch.« Der
Krümel flog in einem hohen Bogen durch die tote Luft des Speisesaals.
    Von Neuem liefen sie
einen dunklen Gang entlang, und Bernina verspürte auf einmal den unnatürlich
starken Wunsch nach

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