Die Sehnsucht der Pianistin
Kindergesicht. „Nein“, wiederholte sie. „Bis meine Mutter es mir gestern sagte, wusste ich ja nicht einmal, dass du verheiratet bist.“
„Aber die Einladung zur Hochzeit.“ Joanie zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich ist sie verloren gegangen. Du warst ja immer unterwegs.“
„Ja.“ Lächelnd ließ Vanessa zu, dass Lara ihr die Haare zerzauste. „Wenn ich gewusst hätte … Ich hätte bestimmt eine Möglichkeit gefunden, herzukommen.“
„Na ja, jetzt bist du ja hier.“
„Ja.“ Vanessa liebkoste Laras Nacken. „Jetzt bin ich hier. Oh, wie ich dich beneide, Joanie.“
„Mich?“
„Dieses herzige Kind, dieses Haus, der Blick in deinen Augen, wenn du von Jack sprichst … Ich habe das Gefühl, zwölf Jahre verträumt zu haben, während du dir eine Familie und ein Heim geschaffen hast.“
„Wir haben uns beide etwas geschaffen“, sagte Joanie. „Es ist nur völlig verschieden. Du hast so viel Talent, Vanessa. Schon als Kind habe ich dich rückhaltlos bewundert. Ich wollte so gern spielen wie du.“ Sie lachte und schlang die Arme um Vanessa und das Kind. „Obwohl du so geduldig warst, ist es dir kaum gelungen, mir auch nur die einfachsten Kinderlieder beizubringen.“
„Du warst zwar wild entschlossen, aber hoffnungslos unbegabt. Ach, ich bin so froh, dass du immer noch meine Freundin bist.“
„Hör auf, sonst muss ich wieder weinen.“ Schnüffelnd schüttelte Joanie den Kopf. „Pass auf, du spielst jetzt ein bisschen mit Lara, und ich gehe und hole inzwischen etwas Limo für uns. Dann können wir in Ruhe darüber tratschen, wie fett Julie Newton geworden ist.“
„Ist sie das?“
„Und wie viele Haare Tommy McDonald schon verloren hat.“ Joanie hakte Vanessa unter. „Nein, besser noch, du kommst mit mir in die Küche. Dann kann ich dir alles von Jean Baumgartners drittem Ehemann erzählen.“
„Dem dritten?“
„Vorläufig.“
Sie musste über so vieles nachdenken, nicht nur über die komischen Geschichten, die Joanie ihr erzählt hatte.
Versonnen schlenderte Vanessa durch den dämmrigen Garten. Sie musste über ihr Leben nachdenken und darüber, was sie damit machen wollte. Wohin sie gehörte und wohin sie gehören wollte.
Mehr als zehn Jahre lang hatte sie keine Wahl gehabt. Oder besser, sie hatte nicht den Mut gehabt, eigene Wünsche zu äußern. Sie hatte getan, was ihr Vater wollte. Er und die Musik waren die einzigen Konstanten in ihrem Leben gewesen. Sein Ehrgeiz war viel größer gewesen als ihrer, und sie hatte ihn nicht enttäuschen wollen. Du hast es nicht gewagt, meldete sich eine kleine Stimme in ihrem Innern, aber sie ignorierte sie.
Sie verdankte ihm alles. Er hatte sein Leben ihrer Karriere gewidmet. Während ihre Mutter sich vor der Verantwortung gedrückt hatte, hatte ihr Vater sie erzogen, unterrichtet und geformt. Er hatte genauso viel gearbeitet wie sie. Selbst als er schon todkrank war, hatte er sich zusammengerissen und ihre Karriere gefördert. Nichts war ihm entgangen. Sein kritisches Ohr hatte nicht eine einzige falsche Note überhört. Er hatte sie zum Gipfel ihrer Karriere gebracht, und es hatte ihm genügt, sich in ihrem Schatten mit ihr zu freuen.
Das war gewiss nicht leicht für ihn gewesen. Seine eigene Karriere als Konzertpianist war stecken geblieben, noch bevor er dreißig war. Er hatte nie den Gipfel erreicht, den er so sehnsüchtig erstrebte. Für ihn war die Musik alles gewesen, und so hatte er wenigstens in seiner einzigen Tochter seinen eigenen Ehrgeiz verwirklichen können.
Nun stand sie an einem Wendepunkt ihres Lebens. Sie spielte mit dem Gedanken, alles aufzugeben, was für ihn so erstrebenswert war und wofür er gearbeitet hatte. Nie hätte er ihren Wunsch verstanden, eine glänzende Karriere aufzugeben, ebenso wenig wie er nie verstanden oder toleriert hatte, dass ihr vor jedem Auftritt vor Angst ganz elend war. Daran konnte sie sich noch in allen Einzelheiten erinnern. Der Knoten in ihrem Magen, die Übelkeit, die sie jedes Mal niederkämpfen musste, und der hämmernde Kopfschmerz, wenn sie in den Kulissen stand.
Lampenfieber, hatte ihr Vater gesagt. Sie würde es schon irgendwann ablegen. Aber diesen Wunsch hatte sie ihm nie erfüllen können.
Trotzdem wusste sie genau, dass sie wieder auf die Bühne gehen konnte. Sie konnte es ertragen. Wenn sie wollte, konnte sie ihre Karriere noch weiter ausbauen. Wenn sie nur gewusst hätte, ob es wirklich das war, was sie wollte.
Vielleicht brauchte sie nur ein wenig Ruhe. Sie
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