Die Sehnsucht der Smaragdlilie
über den Himmel und über das dunkel glänzende Meer. Die Luft war eisig, feucht und roch nach Regen. Doch Gott sei Dank war bislang noch kein Tropfen vom Himmel gefallen. Hoffentlich würde das Wetter noch so lange halten, bis sie an Land gingen.
Nikolai Ostrowski stützte die Ellbogen auf die Reling und starrte über das weite Wasser. Bald würden sie Dover erreicht haben. Sie mussten sich beeilen, wenn sie noch vor den Franzosen in Greenwich ankommen wollten. Mit all den Frauen und Dienern würde es nicht leicht werden. Doch es musste sein.
Nikolai lachte über seinen Leichtsinn, diese Aufgabe ohne Weiteres übernommen zu haben. Es war wirklich verrückt, über den ganzen Kontinent zu reisen, während kluge Leute sich jetzt an ihren Kamin setzten und auf den Frühling warteten.
Er griff in sein wattiertes rotbraunes Wams und zog den Brief seines Freundes Marcos Velazquez heraus. Das Schreiben hatte Nikolai ausgerechnet in dem Augenblick erreicht, in dem er gerade beschlossen hatte, es sich einen friedlichen Winter lang bei Wein und schönen Frauen in einer kleinen italienischen Stadt gemütlich zu machen. Eben erst hatte er einen lästigen Auftrag erfüllt, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte – wieder einmal. Jetzt hatte er sich doch wohl ein paar Monate des Ausruhens und des Vergnügens verdient!
„Niemandem außer dir kann ich eine solche Aufgabe anvertrauen, mein Freund“, stand in dem Brief. Die feuchte, salzhaltige Luft hatte die mit schwarzer Tinte geschriebenen Worte fleckig werden lassen. „Kürzlich verließ meine Mutter das Kloster St. Theresa, wohin sie sich zurückgezogen hatte, und heiratete wieder. Ihr Gatte, der Duque de Bernaldez, wurde mit dem neuen spanischen Gesandten Diego de Mendoza, dessen Verwandter er ist, nach England beordert. Ihr Auftrag ist sehr delikat, da die Franzosen versuchen, einen neuen Vertrag mit König Henry auszuhandeln. Nach Aussage meines neuen Stiefvaters muss das mit allen Mitteln verhindert werden.
Meine Mutter besteht darauf, ihren Gatten in England zu treffen, und ich mache mir große Sorgen um ihr Wohlbefinden dort. Sie ist so sanft, und die Jahre, die sie nach dem Tod meines Vaters im Kloster verbrachte, haben sie nicht auf einen königlichen Hof vorbereitet. Ich muss dich bitten, sie zu begleiten und auf ihr Wohlergehen zu achten, denn ich muss in der Nähe Venedigs bleiben. Julietta kann jeden Tag unser erstes Kind zur Welt bringen.
Mein Freund, ich weiß, dass ich dich um ziemlich viel bitte, aber ich vertraue keinem außer dir. Ich werde tief in deiner Schuld stehen, noch mehr, als ich es bereits tue.“
Nikolai faltete den Brief wieder zusammen und starrte erneut über das weite, graue und kalte Meer. Wie hätte er sich weigern können? Freundschaftspflichten und der Schutz wehrloser Damen waren seine größten Schwächen. Also hatte er Marcos geantwortet und erklärt, er verlange, dass man das Neugeborene Nikolai nannte, wenn es ein Junge wurde und Nicola, sollte es ein Mädchen sein. Und hatte sich auf den Weg gemacht, Doña Elena Maria Velazquez, die neue Duquesa de Bernaldez, zu treffen.
Er fand, dass der Freund seine Mutter ziemlich unterschätzte. Ja, sie war lieb und entzückend, doch das Kloster hatte ihre eiserne Natur keineswegs weich werden lassen, wie er inzwischen festgestellt hatte. Im Augenblick sah sie es als ihre Aufgabe an, Nikolai mit einer ihrer Damen zu verheiraten. Und dabei ließ sie sich nicht beirren. Sein Einwand, er würde ein zielloses Söldnerleben führen, das sich so gar nicht für feine Damen eignete, änderte nicht das Geringste an ihrem Entschluss.
„Eine gute Frau würde Euch sesshaft werden lassen, Nikolai. Sie würde Euch ein Heim schaffen, so wie Julietta es für meinen Sohn getan hat“, sagte sie. „Wünscht Ihr Euch denn keine Familie?“
Glücklicherweise retteten ihn etliche Anfälle von Seekrankheit, unter denen Doña Elena und die meisten ihrer Begleiterinnen litten, vor ihren Heiratsvermittlungen. Er hatte einfach nicht die Zeit, sich ihrer Verkupplungsversuche zu erwehren und ihre anstrengende Reise zu planen.
Im Wesentlichen sollte er eine Art Vergnügungsmeister der spanischen Gesellschaft sein, sich Geschichten ausdenken, um den englischen Hof und die Franzosen zu beeindrucken, und angesichts all der Herausforderungen den Reichtum, die Frömmigkeit und die Stärke der Spanier demonstrieren. Seine Jahre als Schauspieler und Akrobat beim fahrenden Volk würden ihm bei einer solchen Aufgabe
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