Die Sehnsucht ist größer
plötzlich zu meinem größten Erstaunen mitten in dieser Einsamkeit ein Auto fahren sehe. Richtig - irgendeine Landstraße mußte man ja vor Hontanas noch queren. Ich hole die Wanderführer heraus - und diesmal sind sich beide einig: Ca. 200 m parallel zum camino führt eine Landstraße nach Hontanas, zugegeben, es ist ein bißchen weiter - aber nach den letzten Kilometern durch den Schlamm bin ich überzeugt, daß die Straße bestimmt sicherer, angenehmer und vielleicht sogar schneller ist. Und für das Knie ist es möglicherweise auch die bessere Variante.
Als ich an der Straße ankomme und in einiger Entfernung auch noch einen Wegweiser entdecke, der in die richtige Richtung zeigt, ist die Entscheidung klar - ich wechsle auf die Straße. Ich habe schlichtweg keine Lust mehr auf Schlammkilometer...
Hontanas gibt sich verschlossen - die einzige Frau, die ich im Ort treffe, weiß anscheinend nichts von der Bar, die es dort geben soll, zeigt mir aber den Weg zum Refugio. Nur, das weiß ich ja selbst noch nicht, ob ich da hin will oder doch weitergehe. Ich drehe eine Runde durch’s Dorf, ich treffe die Frau nochmal, die erneut auf das Refugio weist - und gehe wieder. An der öffentlichen Waage vor dem Ort mache ich Mittagspause - und breche auf. Also doch Castrojeriz...
Das ging dann besser und schneller als erwartet. Ich bin kurzerhand auf der Straße geblieben - am Vormittag habe ich was Wichtiges gelernt: Wenn der camino sich als Schlammweg erweist, dann gehe ich eben die Strecken, die auch die Radfahrer machen. Hauptsache, man kommt ans Ziel. Wenn ich die Lektion schon in den ersten Tagen gelernt hätte, wäre mir einiges erspart geblieben. Aber es ist schon interessant, wie fixiert man auf die vorgegebene Wegbeschreibung und -markierung ausgerichtet ist. Ich bin blind den gelben Pfeilen gefolgt - ohne zu überlegen, ob in der Situation vielleicht etwas anderes sinnvoller ist. Na gut - ich glaube, die Lektion sitzt...
St. Anton - ein altes verfallendes Antoniterkloster kurz vor Castrojeriz, durch das die Straße direkt hindurchführt - und in der Ferne am Berg die Stadt. Man sieht schon die Burgruine, erkennt die Kirchen. Schließlich der Weg durch eine Straße mit verlassenen Häusern - fast hat man den Eindruck, als ob man die Häuser hier an der Ostseite einfach verfallen läßt, um im Westen neue aufzubauen. Es macht einen traurigen Eindruck.
An der Plaza Mayor kommt mir der Refugio-Leiter entgegen, deutlich erkennbar an seinem camino-T-Shirt. Er nimmt mich regelrecht unter seine Fittiche, begleitet mich ins Refugio - und hier begrüßt mich die Pilgergruppe von gestern mit lautem »hallo« und Applaus. Ich war die letzte, die »eingelaufen« kam - und hatte ja dazu signalisiert, daß ich höchstwahrscheinlich in Hontanas bleiben würde. Es tut mir gut, die anderen wiederzusehen - und es tut mir noch besser, diese Tagesetappe geschafft zu haben.
Ich bekomme wieder Vertrauen, daß es geht.
Das Refugio hier ist hübsch und gut geführt - aber klein und voll. Wenn sich zwanzig Leute auf zwei Toiletten, zwei Duschen und eine Kaffeemaschine verteilen müssen, wird es zwangsläufig eng. Seife und Handtuch unter dem Arm lauert man darauf, daß die Dusche endlich frei wird. Und das nach der Weite eines solchen Tages...
Doris hat Pech gehabt. Sie hat sich den Fuß verknackst, der Weg von Hontanas hierher war eine ziemliche Qual für sie. Und wenn man sich im Refugio umschaut, dann gibt es fast keinen, der nicht irgendeine Verletzung hat, irgendwas verpflastert, verbindet, einschmiert.
Am Abend werde ich noch ziemlich verunsichert. Ich dachte eigentlich, es sei Samstag und der Gottesdienst wäre ein Vorabendgottesdienst. Und irgendwie scheint der Priester auch das entsprechende Sonntagsevangelium gelesen zu haben, wenn ich es richtig mitbekommen habe. Aber der Gottesdienst war nach sage und schreibe zwanzig Minuten vorbei - ohne ein Lied, ohne Gloria, ohne Predigt. Der Priester jagte durch die Liturgie, als ob er einen neuen Schnelligkeitsrekord aufstellen sollte. Als er sich die Nase putzte, hat er dabei einfach laut weitergebetet -und bei den Fürbitten kam die Gemeinde noch nicht mal dazu, ihr »wir bitten dich, erhöre uns!« fertig zu beten - spätestens bei dem Wort »dich« (wenn man es jetzt mal auf die deutsche Formulierung überträgt) hastete der Priester schon die nächste Bitte herunter.
Diese Art des Gottesdienstes ist mir fremd - und das hat eigentlich auch nichts mehr mit »Gottesdienst« zu
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