Die Sehnsucht ist größer
unsicher - aber ich glaube, da gibt es Zusammenhänge.
Auf der eher langweiligen Straßenstrecke ging heute erstmals ein Psalmwort mit mir. Bisher blieb wenig Raum dafür, weil das Gehen selbst soviel Aufmerksamkeit erfordert hat, sei es, weil die Wege so schlammig waren, weil ich auf meinen Körper konzentriert war, oder weil es landschaftlich so wunderschön war. Auf dieser Strecke, auf der es sich einfach ging, hat mich der Psalm 84 begleitet, den ich so sehr mag.
Wohl denen, die Kraft finden in dir, wenn sie sich zur Wallfahrt rüsten. Ziehen sie durch das trostlose Tal, wird es für sie zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie ziehen dahin mit wachsender Kraft...
Ich habe heute viel über diese wachsende Kraft nachgedacht. Bisher habe ich damit in erster Linie eine wachsende, körperliche Kraft verbunden - und das erlebe ich in diesen Tagen: Ich gerate nicht mehr gleich bei jedem Berg außer Puste, die Armmuskeln werden ein bißchen kräftiger, ich krieg den Rucksack anders hoch als noch in St.-Jean - und das liegt nicht nur daran, daß er zwischenzeitlich eine ganze Menge leichter geworden ist.
Spannender aber finde ich den Gedanken an eine wachsende innere Kraft. Und da gibt es nochmal zwei Akzente. Da gibt es eine Kraft, die kommt aus den gegangenen Schritten heraus, Paul hat es mal die »Kraft der Erinnerung« genannt. Wenn ich die Pyrenäen geschafft habe, dann werde ich wohl auch diesen Berg schaffen. Das ist sozusagen eine Art »faktische Vergewisserung«. Ich weiß um Möglichkeiten und Grenzen meiner selbst -und das macht mich mir meiner selbst bewußt - selbstbewußt.
Jeder Schritt ist aber auch eine Entscheidung gegen drei andere, mögliche, zu gehende Schritte. Wenn ich konsequent nach Westen gehe, mich gegen alle Verführung wehre, nach Norden, Süden oder Osten zu gehen, mich also zugleich für etwas und damit gegen etwas anderes entscheide - das erzeugt Identität. Ich entscheide mich - und ziehe damit Grenzen. Das gibt Profil. Je mehr solcher Entscheidungen ich treffe - und je grundsätzlicher diese Entscheidungen angelegt sind, umso deutlicher werde ich, umso deutlicher wird der Weg, weil manche Alternativen überhaupt nicht mehr in Betracht kommen. Damit aber konzentriert sich die Kraft. Im konsequenten Dahinziehen, auch durch trostlose Strecken hindurch, wird Kraft erzeugt. Jede Nicht-Entscheidung für den nächsten Schritt bindet Energie, jede sauber getroffene Entscheidung setzt Kraft frei.
Heute abend habe ich die erste Muschel auf den Rucksack genäht. Mir war klar, vor Pamplona kommt keine Muschel auf den Rucksack - und das Gefühl war ja wohl berechtigt. Muschelrucksack und Autobuspilgern - das hätte für mich nicht gepaßt. Jetzt habe ich immerhin schon über 100 km zu Fuß hinter mir, da darf die erste Muschel auf den Rucksack.
Es ist eine ganz kleine Muschel. Ich habe sie im letzten Jahr bei meinem Kurzurlaub in Norddeutschland gefunden - ich kam aus der Marienkirche in Lübeck, sah auf den holprigen Pflastersteinen etwas silbern blinken, bückte mich - und hielt eine kleine, silberne Jakobsmuschel in der Hand. Es war ein Knopf in der Form der Muschel - aber in der Situation war es für mich mehr als ein verlorengegangener Knopf. Es war wie eine Bestätigung: Geh nach Santiago!
Das erste Tagebuch neigt sich seinem Ende zu. Heute ist Sonntag - vor vierzehn Tagen habe ich die Pyrenäen überquert. Und da war der Abend in Roncesvalles mit Neville und Gérard. Vor einer Woche bin ich mit dem Bus im strömenden Regen von Puente la Reina nach Logroño gefahren. Heute bin ich wieder auf dem Weg. Am nächsten Sonntag wird León angesagt sein - und in vier Wochen bin ich wieder daheim. Einige, die ich auf dem Weg kennengelernt habe, sind hinter mir, einige mir voraus, ich erlebe mich im Strom derer, die vor mir und nach mir den Weg entlang ziehen. Mein Körper hat sich die Zeit genommen, die ich mir selbst nicht hatte gönnen wollen, um hier, in dieser für mich fremden Welt, dieser anderen Lebensform, anzukommen. Ich habe erfahren, daß ich den Weg nicht machen kann, sondern nur auf dem Weg sein kann. Ich bin dankbar geworden - und halte all das, was mir geschenkt wird, nicht für selbstverständlich. Es ist gut so, wie es ist - ich bin sehr zufrieden. Und so mögen auch einige Sätze von Jean Vanier am Ende dieses ersten Tagebuches stehen, in denen ich mich mit meinen Erfahrungen wiederfinde:
Es ist wichtig, sich Zeit zu lassen, und nicht gleich auf die Dinge
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