Die Seidenbaronin (German Edition)
pflegst, wirst du wieder gesund.»
Anna seufzte und schloss die Augen. «In diesem Haus kann man sich nicht pflegen. Die Rosiger scheucht mich den ganzen Tag umher. Ihr Mann ist Tagelöhner und kommt nur zum Schlafen heim. Acht Kinder haben sie, und oben wohnen noch die kranken Großeltern. Ich durfte mich kaum von der Geburt erholen.»
Paulina betrachtete das bleiche Gesicht ihrer Tante. Nachdem Anna von ihrem Vater des Hauses verwiesen worden war, weil sie sich einer Schauspieltruppe anschließen wollte, hatte sich ihre Schwester Sophie hin und wieder heimlich mit ihr getroffen. Sophie hatte die damals noch kleine Paulina zu diesen Zusammenkünften mitgenommen, um keinen Verdacht zu erregen. Sie hatte dem Kind erzählt, Anna sei eine Freundin von ihr, und erst Jahre später, als Sophie immer verwirrter wurde, hatte sie ihrer Tochter eines Tages gestanden, wer die geheimnisvolle schöne Frau wirklich gewesen war.
«Wie bist du überhaupt zu der Rosiger gekommen?», fragte Paulina.
Es dauerte eine Weile, bis Anna antwortete. Paulina dachte schon, sie sei wieder eingeschlafen, als sie schließlich die Augen öffnete. «Kurt, der Bruder von der Rosiger, ist mein Liebster», sagte sie mit kraftloser Stimme. «Wir gehören beide der Schauspieltruppe von Marianne Böhm an. Als ich schwanger wurde, konnte ich nicht dort bleiben.»
«Dein Liebster ist ein Bürgerlicher? Und verheiratet seid ihr auch nicht?»
«Der Kurt hat schon eine Frau. Aber sie hat ein schlechtes Wesen, und er ist ihr davongelaufen.»
«Mein Gott, Anna, dann lebt ihr ja in doppelter Sünde!»
«Was weißt du schon vom Leben, Mädchen! Nicht alles, was man als Sünde bezeichnet, ist auch wirklich eine solche. Andererseits steckt so viel Sünde hinter der scheinbaren Tugend …»
«Du philosophierst schon genauso wie Alexander!», meinte Paulina vorwurfsvoll.
Annas Augen blitzten amüsiert auf. «Mein lieber Bruder hat sich also immer noch nicht gebessert. Hat er unseren Vater schon zur Weißglut getrieben?»
Paulina musste an die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Alexander und dem alten Baron denken. Doch dann fiel ihr Blick auf den schlafenden Säugling in seinem Weidenkörbchen, und das friedliche Bild verscheuchte sofort ihre trüben Gedanken. «Was ist es denn, ein Junge oder ein Mädchen?»
«Ein kleines Mädchen», antwortete Anna mit einem glücklichen Lächeln. «Ich habe es Sophie getauft, nach deiner Mutter.»
«Was wirst du mit dem Kind machen?»
«Ich weiß es noch nicht. Ich hatte gehofft, dass die große Sophie mir helfen könnte.» Annas Lächeln erstarb. «Was ist mit ihr? Auf keinen meiner Briefe hat sie mehr geantwortet. Seit Jahren habe ich sie nicht gesehen. Warum ist sie nicht mitgekommen?»
Paulina zögerte. Sollte sie Anna von der Krankheit ihrer Mutter erzählen? Würde Anna es ertragen, wenn sie erfuhr, dass das einzige ihr noch wohlgesinnte Mitglied der Familie dabei war, den Verstand zu verlieren?
«Es ist also wahr, was man sich erzählt», sagte Anna traurig. «Ich hatte immer gehofft, dass es nur Geschwätz ist, eine weitere Verleumdung unserer Familie. Doch je länger ich nichts von Sophie hörte, desto mehr fürchtete ich, dass es die Wahrheit sein könnte. Sag es mir, Paulina, du brauchst mich nicht zu schonen! Ist sie wirklich …?»
Paulina nickte betrübt und senkte den Kopf. «Sie spricht kaum noch und starrt den ganzen Tag nur vor sich hin. Wenn sie etwas sagt, ist es lauter wirres Gefasel. Nicht einmal mich scheint sie mehr zu erkennen.»
«Sie hält es im Haus ihres Vaters nicht mehr aus. Das ist ihre Art, sich davon zu lösen. Sie hat nicht den Mut, alle Brücken hinter sich abzureißen, so wie ich es getan habe. Einmal nur hat sie versucht, auszubrechen. Doch sie ist kläglich gescheitert. Du armes Kind! Was soll nur aus dir werden?»
«Mach dir um mich keine Sorgen!», sagte Paulina schroff.
Anna packte Paulinas Arm, ihr Griff war unerwartet kraftvoll. «Du musst fort aus dem Haus deines Großvaters, hörst du! Ich kann dir nicht sagen, wie du es anstellen sollst, aber du musst fort! Was ist mit deinem Vater? Stehst du mit ihm in Verbindung?»
«Mit meinem Vater?», fragte Paulina verwirrt. «Aber ich kenne ihn nicht einmal! Ich weiß gar nichts über ihn. Niemand hat jemals mit mir über ihn gesprochen.»
«Dann musst du der Gräfin Bahro schreiben, der Schwester deiner Großmutter. Sie hat die Hochzeit zwischen deinen Eltern seinerzeit arrangiert. Die Familie deines Vaters ist von
Weitere Kostenlose Bücher