Die seidene Madonna - Roman
war!
In allen Gassen, durch die der Zug kam, wehten Fähnchen und Wimpel mit dem königlichen Wappen, und auf den Dächern der Donjons waren seidene Lilien-Standarten aufgestellt. Der Konvoi umrundete die Tour du Moulin auf der linken Seite und gelangte direkt vor der Tour d’Argenton zur Feste de Coudray, wo noch die
traurigen Spuren der Gefängnisse zu sehen waren. Dann ging es weiter Richtung Osten, bis der Zug wieder bei der Tour de l’Horloge ankam und man endlich die königliche Residenz betrat.
Als Marschall de Gié François in die Arme nahm, um ihn vom Pferd zu heben, konnte Louise ihren Ärger nicht unterdrücken. Der Marschall wusste nur zu gut, was er mit dieser Geste bewirkte. Genau das war seine Absicht. Ihre Blicke trafen sich, und sie maßen sich gegenseitig verächtlich. In Zukunft würden sie sich als Gegner betrachten, und der Wunsch, dem anderen die Stirn zu bieten und ihn zu beleidigen und zu verunglimpfen, sollte sie nicht mehr loslassen.
Der König sprang von seinem Pferd und eilte zu Louise, um ihr beim Absteigen zu helfen. Mit einem eleganten Hüftschwung ließ sie sich von ihrer Zelterstute gleiten und reichte Louis XII. die Hand.
»Willkommen zuhause, Madame. Ich wünsche Euch hier eine wunderschöne Zeit.«
Louise wollte gerade »vielen Dank, lieber Cousin« antworten, als sie plötzlich stockte, weil ihr der Anblick der schwangeren Königin die Kehle zuschnürte. Sie sah den König an, der sie amüsiert musterte und jede Regung in ihrem Gesicht prüfte.
»Ich danke Euch für Eure guten Wünsche, Sire. Ich bin sicher, meine Kinder und ich werden hier sehr glücklich sein.«
Auf eine ihrer Zofen gestützt, entstieg Anne ihrer Sänfte und trat zu ihrem Gatten. Demonstrativ legte sie eine Hand auf ihren Bauch, der sich unter einem nachtblauen Kleid mit Hermelinbesatz verbarg. Mit feindseliger Miene und einem gezwungenen Lächeln hieß sie die Comtesse d’Angoulême willkommen.
Die Königin würde ihr ganz bestimmt nichts schenken. Das spürte Louise sofort. Unter allen Umständen zog sie es aber vor,
mit offenen Karten zu spielen und sich nicht zu verstellen oder zu heucheln. Das kam auch dem impulsiven Temperament von Königin Anne entgegen, weshalb sich die beiden zeit ihres Lebens unverhohlen bekämpfen sollten.
»Das ist also der große Junge, von dem ich schon so viel gehört habe!«, sagte sie mit einem Blick auf den jungen François, der sich graziös vor ihr verbeugte.
Unerbittlich musterte sie das Kind, um einen Fehler an ihm zu entdecken.
»Ich stelle fest, man bemüht sich um Höflichkeit«, bemerkte sie zuckersüß.
Louise verstand diese Bemerkung als Aufforderung, den Ball zurückzuspielen.
Es dauerte nur eine Sekunde, bis die beiden Frauen scheinbar höflich und manierlich das Territorium absteckten, auf dem gekämpft werden sollte.
Und Marschall de Gié, dem die Aufgabe zukam, den jungen François in Schutz zu nehmen - was die Comtesse d’Angoulême noch nicht so recht begriffen hatte -, störte sich sofort am allzu aufbrausenden Temperament der Königin.
»Eure Hoheit«, sagte er und machte eine tiefe Verbeugung vor ihr, »es dürfte uns keine Schwierigkeiten bereiten, dieses Kind zu erziehen. Er verfügt über die besten Anlagen, die man sich nur vorstellen kann. François ist von wacher Intelligenz, großer Leidenschaft und entschlossenem Willen und Mut.«
Man sah Louise an, wie verblüfft sie war, weil sie sich fragte, wie de Gié solche Lobeshymnen auf ihren Sohn halten konnte, obwohl er ihn doch erst seit kurzem kannte. Der Königin gegenüber gab sich Louise gelassen und nahm sich vor, diese einigermaßen erstaunliche Frage später zu klären.
Mit einem kurzen Blick auf die Entourage der Königin versicherte
sich de Gié, dass die Familie d’Angoulême in keiner Weise behelligt wurde. Auch hier schien man ihn nicht in Verlegenheit bringen zu können, und Anne de Bretagne gelang es nicht, ihn einzuschüchtern. Sie musterte ihn mit einer Miene, die beinahe geringschätzig wirkte.
»Trotz alledem hat sich dieses Kind den Gepflogenheiten des Hofes anzupassen. Wie ich höre, soll man es in Cognac nicht allzu genau damit nehmen.«
Der Pfeil hatte genau ins Ziel getroffen; diesmal wirkte de Gié irritiert. Es kam aber auf keinen Fall in Frage, die Königin im Vorteil zu lassen, weshalb Louise spontan reagierte. Sie fürchtete nämlich, die wohldurchdachte Replik des Marschalls könnte zu ihrem Nachteil verstanden werden.
»Ich fürchte, man hat Euch
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