Die seidene Madonna - Roman
das Eis im Hof aufhacken, damit keine Kunden oder Besucher stürzen und sich verletzen.«
Mathias stand auf.
»Das kann ich machen«, sagte er, »aber ich fürchte, in einer halben Stunde müssen wir von vorn anfangen, weil der Nieselregen sofort wieder auf dem Boden friert.«
Er wickelte sich in einen warmen Pelz, holte aus dem Schuppen neben der Werkstatt eine Schaufel und kratzte das Pflaster im Hof geräuschvoll frei. Überall in der Nachbarschaft war zu
hören, wie die Leute mit Schaufeln die Eingänge vor ihren Läden und Häusern vom Eis befreiten.
Alix konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Arbeit und vergaß das Eis, den Schnee und das schlechte Wetter. Sie bewegte ihr Schiffchen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Beim Bedienen des Blatts merkte sie, dass ein Schiffchen beschädigt war.
»Gauthier«, wandte sie sich an den alten Meister, der zusammen mit Arnold an dem zweiten großen Webstuhl arbeitete, »ich glaube, du musst mir helfen. Ich kann mir jetzt keine Panne leisten. Die Kämme funktionieren, aber der Schaft klemmt.«
Als Gauthier zu ihr kam, um nachzusehen, machte sie ihm Platz und trat hinter das Gewebe, das auf der Rückseite genauso sauber und exakt gearbeitet sein musste wie vorn. Zufrieden stellte sie fest, dass ihr Stich perfekt war, eng und dicht, und dass das Bild schön glänzte und in allen Farben schillerte wie auf der Vorderseite. Auf dem ersten Bild - die Bestellung umfasste ingesamt drei Bilder - stellte das Fabelwesen seine ganze Kraft zur Schau: Die Schuppen auf seinem Rücken waren aufgestellt, die Zähne in seinem gewaltigen Gebiss schienen den Betrachter zu bedrohen, und seine dichte, buschige Mähne reckte sich stolz in die Höhe. »Hast du die Silberfäden sortiert, Florine?«, fragte sie die junge Frau. »Ich überlege gerade, ob wir ein paar davon für die Schuppen des Ungeheuers verwenden sollen. Dann würden sie noch schöner glänzen.«
»Wir haben kaum noch Silberfäden!«
»Gibt es nicht noch ein paar Rollen im Lager?«
»Nur noch eine einzige.«
»Zu dumm«, antwortete Alix. »Aber so ist es nun einmal. Was sollen wir tun? Dieser Faden ist eben sehr teuer. Immerhin verzichten wir schon auf Goldfäden, weil wir sie uns nicht leisten können.«
Arnold kam zu Alix und gab ihr einen schönen leuchtendroten Seidenfaden.
»Der Seidenfaden hier bringt deine Mähne bestimmt sehr gut zur Geltung«, meinte er und hielt das Knäuel über den Kopf des Tieres, um die Wirkung zu prüfen.
Aber Alix schüttelte nur den Kopf und wirkte nicht überzeugt.
»Ich finde, der Faden hat zuviel Krapp 1 und wirkt dadurch zu rot; um das Ganze auszugleichen, bräuchte es noch etwas gelbes Wau .«
»Wie wär’s, wenn du die beiden Fäden mischst?«
»Stimmt, das könnte ich mal ausprobieren. Ich bin gespannt auf das Ergebnis.«
An Florine gewandt, sagte sie dann:
»Du musst die Bestellung für die Arras-Fäden vorbereiten. Wir schicken sie los, sobald der Vogt von Chartres uns den zweiten Abschlag gezahlt hat. Deshalb möchte ich das erste Bild auch so schnell wie möglich fertigstellen.«
»Und was ist mit den Seidenfäden aus Italien, Alix? Der Vorrat ist auch bald aufgebraucht«, berichtete Florine.
»Jacquou hat versprochen, mehrere Rollen aus Rom mitzubringen. Abgesehen von denen aus Zypern sollen die Seidenfäden aus dem Vatikan weit und breit die schönsten sein.«
Arnaude arbeitete neben Alix an den kleinen Figuren auf der Bordüre und übertrug aufmerksam die Merkzeichen auf ihre Kettenfäden. Sie war erfahren genug, um die Farben für ihre Motive nach eigenem Gutdünken zu wählen. Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, hörte sie mit einem Ohr zu, was ihre Freundinnen zu sagen hatten.
»Für diesen Auftrag haben wir noch genug Wolle«, meinte sie. »Florine hat sämtliche Wollfäden sortiert. Sie sind alle in Ordnung, was Stärke und Färbung betrifft. Davon wenigstens ist genug auf Lager, sodass wir nichts kaufen müssen.«
Alix postierte sich vor ihrem Ungeheuer und musterte das Ensemble mit kritischem Blick. Plötzlich hatte sie eine Idee. Van Orly hielt sich an die neue Mode aus Italien, die berühmt berüchtigten Grotesken , und neigte dazu, die Hauptfigur in der Mitte zugunsten der Bordüre zu verkleinern und diese zu vergrößern. Warum sollte sie den Rand eigentlich nicht noch breiter machen und kleine unterhaltsame Szenen einarbeiten? Der Vogt von Chartres hätte mit Sicherheit nichts dagegen einzuwenden. Religiöse Themen interessierten ihn nicht
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