Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
hatte, um das Kostüm anzuprobieren, unterdrückte einen Fluch und beeilte sich, in ihr Alltagskleid zu schlüpfen. Mönchskutte oder Nonnenkleid waren beliebte Kostüme, da gerade zu Fastnacht gerne geistliche Würdenträger und kirchliche Bräuche verspottet wurden, und Fygen war sicher, dass ihr die schlichte, schmucklose Kutte ausgezeichnet stand. Sie hatte sich schon auf die Tanzerei gefreut, obwohl Peter sie nicht zu den Byrkens begleiten würde, die für diesen Abend zu Schmaus und Tanz geladen hatten, da er in Geschäften nach Antwerpen gereist war. Achtlos ließ Fygen das Kostüm auf den Dielenboden sinken. So wie die Sache stand, würde es an diesem Tag ohnehin keine Verwendung mehr finden. Fygen seufzte. War es also so weit. Sie hatte damit gerechnet, dass es eines Tages geschehen würde, denn den ganzen Herbst und Winter über hatte es in der Stadt gegärt.
Die Bürger waren unzufrieden. Als Dank für die Unterstützung im Neusser Krieg hatte der Kaiser am neunzehnten September 1475 der Stadt das Reichsstadtprivileg verliehen. Köln unterstand nun keinem anderen Herrn mehr als dem Kaiser. Ein Wunsch, den die Stadt lange gehegt hatte. Köln hatte sich durchgesetzt gegen Karl den Kühnen von Burgund. Doch vom Ersatz der Kriegskosten war keine Rede gewesen. Wie Peter es prophezeit hatte, war Köln der wirtschaftliche Verlierer des Krieges, die Stadtkasse war leer.
Bereits im September hatte der Gürtelmacher Johann Hemmersbach einen Aufstand angezettelt, nachdem der Rat versucht hatte, durch Erhöhung der Steuern auf Brot und Wein und durch weitere Maßnahmen, die Schulden der Stadt zu tilgen. Infolge der Revolte war die sogenannte »Große Schickung« gebildet worden. Als Vermittler zwischen den unzufriedenen Bürgern und den Mitgliedern des Rates hatten Vertreter der Gaffeln eine Beschwerdekommission gebildet, welche die Forderungen der Aufständischen zusammenstellte. Am ersten Oktober waren diese Forderungen dann mit Ratsvertretern erörtert worden, doch was nicht da ist, kann nicht verteilt werden. Und da die finanzielle Situation der Stadt unverändert schlecht war, konnten die Forderungen der Aufständischen nicht erfüllt werden. Die Unzufriedenen blieben unzufrieden, und es brodelte weiter in der Stadt.
Als Fygen die Treppe in die Halle hinabeilte, waren die Mägde dabei, die Fenster zur Straße zu verrammeln. Das große Hoftor hatte man bereits geschlossen. Von der Straße drang Geschrei herein, das aus Hunderten von Kehlen zu kommen schien. Es klang beängstigend wie ein großes Tier, das fauchte und brüllte. Doch mit jedem der hölzernen Läden, der geschlossen wurde, ebbte der Lärm ab, bis er zu einem fernen Rauschen verstummt war.
Wegen der Fastnachtstage hatten sich auch die Kinder kostümieren dürfen, und so stürzten nun eine verstörte, etwas pummelige Prinzessin, ein glockenbehangener Narr und ein zotteliger Esel auf Fygen zu. Die beiden Jüngsten waren noch zu klein, um zu verstehen, was vor sich ging. Doch sie spürten sehr wohl die Aufregung und die Angst der Erwachsenen. Lisbeth in ihrem grauen, zotteligen Eselskostüm drängte sich in die Falten von Fygens Rock. Sie weinte, und die Töne ähnelten erschreckend den Schreien eines Esels. Fygen bekam ihre Jüngste an der Eselsmähne zu fassen und hob sie sich auf den Arm. Sofort verstummte das Geschrei, und Lisbeth kuschelte sich an den Hals ihrer Mutter. Auch Agnes drängte sich schutzsuchend an Fygen, und die vielen kleinen Glöckchen ihres Kostüms klirrten bei jeder ihrer Bewegungen. Allein Sophie schien unbeeindruckt. »Das gibt viele Tote«, verkündete sie altklug und rückte ihr geschnitztes und mit Goldfarbe bemaltes Krönchen auf den blonden Locken zurecht. Fygen schauderte, doch dann wurde ihr klar, dass ihre Älteste wieder einmal nur nachplapperte, was sie von einer der Mägde aufgeschnappt hatte, wie sie es in der letzten Zeit ständig tat.
Eckert kontrollierte eigenhändig, dass jedes Fenster im Hause ordentlich verriegelt und mit einem Kantholz gesichert war, dann bezog er persönlich mit ein paar Knechten im Hof vor dem fest verrammelten Tor Aufstellung.
Die Mägde, Dora, das schwangere Lehrmädchen von Katryn, das seit ein paar Tagen bei ihnen war, und sogar Hilda standen mit schreckgeweiteten Augen in der Halle und flüsterten leise miteinander. Die anderen Lehrmädchen, die Seidmacherinnen und die Helferinnen waren über die Fastnachtstage zu ihren Familien heimgekehrt. Dora war sehr blass. Kleine
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