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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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mit den Fäusten gegen das Holz.
    Dann endlich, als Fygens Fäuste bereits schmerzten und sie kurz davor war aufzugeben, öffnete sich im Obergeschoss einer der Fensterläden einen Spaltbreit, und die dünne, lange Nase des Pfarrers lugte vorsichtig hinaus. Als er Fygens ansichtig wurde und feststellte, dass keiner ihm etwas zuleide tun wollte, fragte er barsch: »Was wollt Ihr?«
    »Wo sind die Kinder?«, antwortete Fygen mit einer Gegenfrage.
    »Der Unterricht ist schon lange zu Ende, die sind alle fort.«
    »Ich bin Frau Lützenkirchen. Ich suche meinen Sohn Herman«, rief Fygen, und ihre Stimme drohte zu kippen, als sie hinzufügte: »Er ist nicht nach Hause gekommen.«
    »Herman Lützenkirchen? Nun, es würde mich nicht wundern, wenn er dem bunten Fastnachtstreiben und der Musik gefolgt ist. Hier ist er jedenfalls nicht mehr.«
    Und schneller als Fygen schauen konnte, hatte der Pfarrer den Fensterladen bereits wieder geschlossen, und sie hörte das Rumpeln, mit dem er von innen den Riegel vorschob.
    Fygen spürte, wie eine Welle kalter Angst über ihr zusammenschlug. Einen Moment stand sie vor dem verschlossenen Tor und fühlte sich ganz klein und hilflos. Was sollte sie jetzt nur machen? Der Pfarrer schien seine Schäfchen recht gut zu kennen, denn Herman war es durchaus zuzutrauen, dass er ganz in Gedanken der Musik durch die Gassen gefolgt war, ohne auf die Idee zu kommen, dass man sich zu Hause um ihn sorgte. Doch wo sollte sie ihn suchen? Er konnte überall in der Stadt sein. Ihm war sicher nicht klar, in welcher Gefahr er sich befand. Tapfer kämpfte Fygen den Anflug von Panik nieder, der in ihr aufstieg und sie zu lähmen drohte. Langsam ging sie die Gasse zurück bis zum Quatermarkt. Ohne einem bestimmten Plan zu folgen, schlug sie die Richtung zum Alten Markt ein, und nach einer Weile hörte sie es von ferne lärmen. Fygen lauschte angestrengt, doch sie konnte die Geräusche nicht einordnen, nicht erkennen, ob sie von friedlich Feiernden stammten oder von Aufruhr zeugten. Doch schienen zumindest Menschen auf der Straße zu sein. Nichts war beängstigender als diese ausgestorbenen Gassen. Beherzt setzte Fygen ihren Weg fort in die Richtung, aus der das Lärmen kam. Vielleicht würde sie Herman dort finden.
    Gerade hatte sie die schmale Pforte zum Alten Markt passiert, als sie sich plötzlich von einigen vermummten Gestalten umringt sah. Sechs, sieben, acht an der Zahl waren aus dem Nichts erschienen und umsprangen sie, zupften an ihrem Umhang, an ihrem Rock. Hohe, spitze Hüte, von Larven verdeckte Gesichter, geschnitzte Nasen; bunte Umhänge flatterten; es grunzte, kicherte, meckerte; eine Flöte blies hoch und schrill in ihr Ohr; Farben wirbelten im Kreis, drehten sich immer schneller, immer wilder.
    »Nein!« Fygen schrie laut und gellend. Die Farben wichen zurück, hörten auf zu wirbeln. Standen still. Das Kreischen verstummte, eine stämmige Gestalt nahm Form an. Zog den Hut, verbeugte sich übertrieben, sagte einen Spruch, etwas, das sich reimte.
    Fygen zwang sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Ihre Nerven waren ihr durchgegangen. Dies waren nur einfache Handwerkerburschen, die wie eh und je zur Fastnacht auf Heischegang waren. Sie zogen fröhlich umher und baten die Vorbeikommenden mehr oder minder gesittet darum, ihre Feierlichkeiten mit einer kleinen Zuwendung zu unterstützen. Mit zittrigen Fingern griff Fygen an den Säckel, der ihr vom Gürtel baumelte, kramte eine kleine Münze hervor und reichte sie dem Stämmigen. Die Handwerker formierten sich zu einer Reihe, und wie die Gänse marschierten sie hinter ihrem Flötenspieler her und verschwanden in die Judengasse hinein. Ein wenig mitgenommen folgte Fygen ihnen in Richtung des Rathauses.
    Als sich die Judengasse zum Rathausplatz öffnete, waren plötzlich überall maskierte Menschen, und zunächst schien es Fygen, als herrsche gewöhnliches Fastnachtstreiben. Vermummte sprangen durcheinander und machten mit Trommeln, Pfeifen und Rasseln einen höllischen Lärm. Vor dem Rathaus drängten sich die Vermummten dicht zusammen. Wie sollte sie Herman in diesem Gewühl finden? Wenn er denn überhaupt hier war. Sie reckte sich, um über die vielen Köpfe hinwegzublicken, versuchte angestrengt, in der Menge Hermans blonden Schopf zu entdecken. Einmal meinte sie sein blasses Gesicht erkannt zu haben, doch rasch verschwand es hinter breiten Schultern und hohen Rücken.
    Vom Sog der Menge wurde Fygen unmittelbar vor das Rathaus gezogen. Etwas an

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