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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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dieser Menschenmenge beunruhigte sie und flößte ihr Angst ein. Kampfeslust schien in der Luft zu liegen und alles zu vergiften, eine unterschwellige, unausgesprochene Drohung. Die Stimmung schien zum Zerreißen gespannt. Unvermittelt wurde Fygen in dieser Menschenmenge eingekeilt. Große breite Gestalten standen um sie herum, und sie mutmaßte, dass sich unter den Maskierungen kaum Frauen verbergen mochten. Majestätisch und von den wogenden Massen unbeeindruckt, ragte der Ratsturm über ihnen auf. Immer dichter drängte sich die Menge zusammen. Einzelne Rufe wurden laut: »Diebe und Bluthunde!«
    Andere nahmen die Worte auf: »Diebe und Bluthunde!«
    Dann scholl es aus Tausenden trunkener Kehlen zugleich: »Diebe und Bluthunde! Diebe und Bluthunde!«
    Plötzlich sah sie Herman. Er stand ein Stück weit hinter ihr. Seine blonden Locken waren zerzaust, der neuen blauen Juppe war ein Ärmel ausgerissen, und er hatte Schmutzspuren im Gesicht, doch ansonsten schien ihm nichts zu fehlen. Wie die Umstehenden reckte er seine geballte Faust im Takt der Worte in die Luft und schrie: »Diebe und Bluthunde! Diebe und Bluthunde!«
    Fygen versuchte verzweifelt, einen Schritt auf Herman zu zu machen, doch mit einem Mal kam Bewegung in die Menge. Alles strömte und stolperte vorwärts, drängte unaufhaltsam auf das Rathaus zu. Die wenigen Wachen wurden grob überrannt; sie hatten dem wütenden Pöbel nichts entgegenzusetzen. Fygen verlor Herman aus dem Blick, er verschwand einfach in der Masse der Leiber. Voller Angst versuchte sie, sich aus der Menge zu befreien, stieß mit Händen und Ellenbogen, suchte an den Rand der Masse zu schwimmen, um nicht ebenfalls hineingezogen zu werden in das prächtige Rathaus, Sitz und Symbol einer freien, sich selbst verwaltenden Bürgerschaft.
    Doch die hinter ihr drängenden Menschen schoben sie unaufhaltsam vorwärts. Gerade als sie drohte hineingezogen zu werden, gelang es ihr, Halt an einem der Tore zu finden. Sie spürte, wie ihre Fingernägel splitterten, doch mit aller Kraft klammerte sie sich fest, ließ die Menschen wie einen Fischschwarm an sich vorübergleiten, bis der schlimmste Sog vorbei war. Dann drängte sie sich an der Fassade entlang, fort von der wütenden Menge.
    Sie hatte gerade die dem Turm gegenüberliegende Seite des Rathausplatzes erreicht, als ein Aufheulen durch die Menschen auf dem Platz ging. Fygen drehte sich um und stellte fest, dass die Gesichter aller nach oben gerichtet waren, zu den Balkonen des Rathauses. Denn dort zeigte sich nun, inmitten des unbeschreiblichen Jubels des Pöbels, der Gürtelmacher Johann Hemmersbach. Groß, breitbeinig und selbstherrlich, die Faust in die Hüften gestemmt, stand er da und ließ sich von der Menge feiern. Er und seine Mitstreiter hatten die Bürgermeister und einige Ratsherren, deren Pech es gewesen war, just an diesem Tag im Rathaus zugegen zu sein, gefangen genommen. Grob hatten sie den hohen Herren die Hände gefesselt und führten diese nun unter allerhand derbem Spott der Menge vor.
    Hemmersbach schien tatsächlich Herr der Stadt zu sein, stellte Fygen erschrocken fest, und er genoss sichtlich seine Macht. Stolz schwang er ein weißes Stöckchen und stolzierte auf dem Balkon auf und ab. Lächerlich, befand Fygen. Lächerlich und beängstigend zugleich. Denn es war eine Sache, die Macht zu ergreifen, eine gänzlich andere jedoch, in schlechten Zeiten die Stadt gut zu regieren. Und dieser dumme Pöbel, diese siegestrunkenen Menschen, glaubten sie wirklich, der Gürtelmacher würde alles richten und wie durch Zauberhand die Kassen der Stadt zu füllen wissen? Das Geld mit vollen Händen ausgeben würde er, bis nichts übrigbliebe außer erdrückenden Schulden. Wie dumm diese Menschen doch waren, wunderte sich Fygen. Wie kurzsichtig. Sparen war der einzige Weg, die Finanzsituation der Stadt wieder zu ordnen. Und wenn erst die Kassen ganz leer waren, der letzte Gulden ausgegeben war, dann würde sich die Menge einen neuen Helden suchen, und es würde rasch bergab gehen mit dem Gürtelmacher. Doch wie es dann um die Stadt bestellt war, wer wusste es zu sagen?
    Eine trunkene Ausgelassenheit machte sich breit. Die Maskierten schwärmten aus, trugen die Botschaft in die Gassen hinaus, dass jedermann erführe, das Volk hätte die Macht ergriffen. »Heute bist du der Herr«, riefen sie, »morgen will ich es sein.«
    Politik macht durstig, und so zogen die Maskierten gruppenweise in Richtung des Alten Marktes, in der Hoffnung, den

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