Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Nase, und Fygen fürchtete, dass sie jeden Moment das Bewusstsein verlieren würde. »Du gehst in deine Kammer und legst dich hin«, riet Fygen ihr. Dann klatschte sie energisch in die Hände. »Geht alle wieder an die Arbeit«, befahl sie den Frauen. Zu ändern war an der Situation ohnehin nichts, also konnte man auch wie gewohnt in seiner Tätigkeit fortfahren. Doch irgendetwas hinderte Fygen daran, sich auch wieder an die Arbeit zu machen. Milchiges Licht drang durch die Fenster zum Hof und vermischte sich mit dem Schein der Kerzen, der trübe die Halle beleuchtete. Der Tag war schon fortgeschritten, nicht mehr lange, und die Dämmerung würde hereinbrechen. Fygen hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Etwas sehr Wichtiges. Aber was war es? Fieberhaft überlegte sie, was es sein könnte. Und dann fiel es ihr endlich ein. Herman! Sie schrie es fast. Mein Gott, wo war der Junge? Er hätte schon längst aus der Schule zurück sein müssen. In Windeseile lief sie durch das ganze Haus und fragte jeden, ob er den Jungen gesehen hatte, doch es war müßig, sie kannte die Antwort bereits: Herman war nicht heimgekehrt. Niemand konnte sich erinnern, ihn seit dem Morgen gesehen zu haben.
»Öffne mir das Tor«, wies sie nur Minuten später Eckert an, einen warmen Umhang um die Schultern geworfen, bereit, sich auf die Suche nach dem Jungen zu machen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was ihm da draußen alles zugestoßen sein könnte.
»Das lasse ich nicht zu!« Eckert stemmte die Hände in die Hüften, reckte das Kinn vor und starrte Fygen grimmig an. Doch wie üblich vermochte er gegen den Eigensinn seiner Dienstherrin nichts auszurichten. Also blieb ihm nur zu hoffen, Peter Lützenkirchen würde ihn nicht für den Leichtsinn seiner Frau zur Rechenschaft ziehen.
Es war ruhig in der Gasse, als Fygen durch das Tor trat. Zu ruhig. Kein Mensch ließ sich sehen, keine Hunde, keine Hühner, keine Schweine. Selbst die Tiere hatte man in die Höfe gesperrt. Wo waren die johlenden Gruppen bunt gekleideter Maskierter geblieben, die gewöhnlich von Pfaffenfastnacht bis zum Aschermittwoch durch die Gassen tanzten und sprangen? Der letzte Donnerstag vor Aschermittwoch hatte den Namen erhalten, weil es an jenem Tag den Geistlichen in den Klöstern erlaubt war, sich mit Gesang, Possenspiel und Mummenschanz zu belustigen. Wohin waren die Handwerksgesellen der Zünfte verschwunden, die gestern noch, bunt kostümiert und von Trommlern und Pfeifern begleitet, durch die Stadt gezogen waren und ihre Reigen und Tänze aufgeführt hatten?
Fygen schlug den Weg in Richtung des Rheins ein, die Obermarspforten hinunter. Matsch und Unrat in der Gasse waren gefroren, und sie musste achtgeben, um nicht auf den eisigen Stellen auszurutschen. Die Straße wirkte abweisend wie sonst sogar zur Nachtzeit nicht. Alle Fenster und Tore waren verrammelt, jene Tore, welche die Bürger gewöhnlich an Fastnacht für Besucher weit öffneten. In so manchen Hof wurden dann Tische und Bänke gestellt, und man brachte Fässer voller Bier herbei, um es an die umherziehenden Feiernden auszuschenken.
Ebenso wenig wie lustiges Volk zeigten sich jedoch brandschatzender Pöbel oder randalierende Aufständler, stellte Fygen ein wenig erleichtert fest, doch eine unerträgliche Spannung lag in der kalten Winterluft.
An der Ecke zum Quatermarkt blieb sie stehen. An dieser Kreuzung unterbrachen sonst die umherziehenden Narren ihren Umzug, um ihre Possenspiele aufzuführen. In den kurzen Vorstellungen wurden meist die Mitglieder der Geistlichkeit aufs Korn genommen und gründlich veralbert. Bei Tag und Nacht drängten sich hier die Menschen, tranken, sangen und tanzten auf der Straße. Oft war in dem Gewühl kein Durchkommen, doch heute war kein einziger Narr zu sehen, und es lagen nur die Scherben ein paar zerschlagener Krüge und ein zerbrochenes Fass auf dem Boden.
Fygen bog in den Quatermarkt ein, und bereits nach wenigen Schritten hatte sie das Pfarrhaus zu St. Alban erreicht, in dem auch der Klassenraum der kirchlichen Schule, die Herman besuchte, untergebracht war. Auch hier waren Tor und Tür verschlossen und alle hölzernen Läden vor die Fenster geklappt. Energisch klopfte Fygen an die kleine Pforte seitlich des Haupttores. Dumpf hallten die Schläge ihrer Knöchel durch die Stille, doch im Innern des Pfarrhauses regte sich nichts. Panik stieg in Fygen auf. Wo waren die Kinder? Wo war Herman? Verzweifelt hämmerte sie
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