Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
keinesfalls um einen gewöhnlichen, freundschaftlichen Besuch handelte. Katryns dunkle Augen waren gerötet und vom Weinen verschwollen, ihre Nase glänzte, und auf ihrer sonst so makellosen, blassen Haut zeigten sich rote, nervöse Flecken. Besorgt lief Fygen zu ihrer Freundin und legte ihr den Arm um die bebenden Schultern. Katryn schluchzte auf, barg ihren Kopf an Fygens Brust und begann laut zu weinen.
Was wohl geschehen sein mochte, fragte Fygen sich bange, während sie Katryn sanft über den Rücken strich. War jemand krank, verletzt oder gar gestorben? Mertyn konnte es nicht sein, den hatte sie ja gerade noch gesund und munter gesehen. Es musste der kleine Tim sein, Katryns Sohn. Der Sechsjährige war Mertyn genannt worden, nach seinem Vater, doch er wurde von allen nur Tim gerufen. Wie schrecklich, wenn ihm etwas zugestoßen wäre, Katryn liebte den Kleinen so sehr. Fygen machte sich von der Freundin los und strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht. »Was ist geschehen?«, fragte sie sanft. »Nun sag es mir schon.«
Unter Schlucken brachte Katryn hervor: »Eines meiner Lehrmädchen ist schwanger.«
Verdutzt blickte Fygen die Freundin an. Hatte sie recht gehört? Das konnte doch kein Grund für solch einen Tränenausbruch sein. »Ja, und?«, fragte sie ein wenig unsicher.
»Und, und …« Wieder schüttelte ein Schluchzen Katryn, doch dann flüsterte sie mit einer Stimme, einer Reibe gleich: »Mertyn ist der Vater.«
»Mertyn hat eines deiner Lehrmädchen geschwängert? Bist du sicher?« Fygen war fassungslos. Sie hatte immer geglaubt, Mertyn, der seine Frau auf Händen trug, wäre zu so etwas nicht fähig. Doch anscheinend mussten sie sich eines Besseren belehren lassen. Wie schrecklich Katryn diese Erfahrung schmerzen musste. Fygen ging zu ihrem Schreibpult, auf das Hilda ein Tablett mit Wein gestellt hatte. Vorsichtig schenkte sie zwei Becher voll. Sie musste sich bemühen, den Wein nicht zu verschütten, denn vor Empörung zitterten ihr die Hände. »Trink das«, sagte sie und reichte der Freundin einen Becher.
Dankbar trank Katryn von dem starken roten Wein, und nach ein paar Minuten hatte sie sich so weit gefangen, dass sie Fygen berichten konnte: »Es ist die Dora aus Kleve, eigentlich ein nettes Ding. Allmählich war es unübersehbar, dass das Mädchen in Umständen ist, und ich habe sie zur Rede gestellt. Ich wollte wissen, ob der Vater des Kindes gedenkt, sie zu heiraten. Doch sie fing sofort an zu weinen. Ich habe ihr zugesetzt, sie solle mir sagen, wer es ist, und dann hat sie mir tatsächlich gestanden, dass Mertyn der Vater ist. So ein Flittchen. Hinter meinem Rücken mit meinem Mann … Am liebsten würde ich sie hinauswerfen, gleich morgen früh.«
»Warum wirfst du nicht Mertyn hinaus?«, fragte Fygen lakonisch, doch für diese Bemerkung hätte sie sich sofort selber ohrfeigen können, denn Katryn fing erneut an zu schluchzen. Doch als sie sich ein wenig beruhigt hatte, erklärte sie Fygen: »Mertyn ist kein schlechter Mann. Er kümmert sich um das Geschäft und lässt es mir und dem kleinen Tim an nichts fehlen. Ich bin sicher, er liebt mich, doch er kann den Weibern einfach nicht widerstehen. Das weiß ich schon lange.« Und mit Entschlossenheit in der Stimme drohte sie: »Doch sein Vergnügen kann Mertyn sich künftig nur noch anderweitig suchen, so viel ist sicher!«
Daran, dass Mertyn den Weibern nachstieg, konnte Fygen sicher nichts ändern. Was sie jedoch vermochte, war, Katryn und Dora aus ihrer misslichen Lage herauszuhelfen. »Ich kann verstehen, dass du Dora nicht mehr in deinem Haus haben willst. Aber du erinnerst dich wohl noch gut an Sewis? Du kannst nicht ernsthaft wollen, dass Dora das gleiche Schicksal erleidet.«
Traurig schüttelte Katryn den Kopf.
»Schick sie morgen früh herüber. Sie kann bei mir ihr Kind bekommen und ihre Lehre beenden, wenn sie mag.«
2. Kapitel
S chnell, schließt die Fenster und Tore, der Pöbel rast durch die Stadt.«
Es war Eckerts Stimme, die vom Hof ins Haus hineinschallte. Fygen erschrak. Bei jedem anderen hätte sie erwartet, dass es sich um einen Scherz handelte, schließlich war Fastelovend. Doch nicht bei Eckert. Eckert machte keine Witze. Rasch schälte Fygen sich aus der dunkelbraunen Nonnenkutte, die ihr bis auf die Füße reichte.
»Autsch.« Die Näherin, die ihr am Morgen das Kostüm für die Karnevalsfestivität an diesem Abend gebracht hatte, musste eine Nadel vergessen haben. Fygen, die ihre Arbeit kurz unterbrochen
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