Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
vorgab. Es musste ihn große Kraft gekostet haben, sich so zu beherrschen, erkannte Fygen, und ihre Empörung löste sich auf, verlor sich und machte einem vagen Gefühl von Mitleid Platz. Wer ein solch hohes Amt bekleidete, der durfte sicher keine Schwächen zeigen. Nikasius schien in seinem Leben gelernt zu haben, seine Gefühle hinter einer glatten Fassade zu verbergen, doch für einen winzigen Moment war es ihr vergönnt gewesen, einen Blick hinter diese Fassade zu werfen. Sie hatte einen verletzlichen Menschen gesehen. Einen, der ein Stück seiner Vergangenheit bedauerte.
Sehr gerne hätte Fygen erfahren, was damals zwischen Nikasius und ihrer Mutter geschehen war. Was hatte ihre Mutter an ihm gefunden? Hatte sie ihn geliebt? Und er sie? Oder war er ein Frauenheld gewesen, und sie war auf sein einnehmendes Äußeres hereingefallen? Fygen konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihre Mutter so liederlich gewesen sein sollte, wie Onkel Mathys behauptet hatte. Gerne hätte Fygen Antworten auf diese Fragen erhalten, doch von Nikasius würde sie ganz sicher nichts erfahren.
Die Luft im Saal wurde mit einem Mal drückend und schwül und legte sich wie ein eiserner Ring um ihre Brust. Keinen Augenblick länger vermochte sie unter den Feiernden zu verweilen und fürchtete, dass ihr jeden Moment die Sinne schwinden würden.
Katryn hatte bemerkt, dass Fygen schwankte, und legte ihr hastig den Arm um die Schultern, um sie zu stützen. Sanft führte sie die Freundin zu einem gepolsterten Stuhl, damit sie sich ein wenig ausruhe.
Wenig später nur geleitete Peter Fygen an seinem Arm auf den nun still daliegenden Neumarkt hinaus. Kräftig atmete Fygen die kühlende Abendluft ein, und allmählich belebten sich ihre Sinne so weit, dass Fygen in der Lage war, ihrem Mann von der Begegnung mit ihrem Gastgeber zu berichten.
Während Peter behutsam ihre Schritte heimwärts in Richtung der Wolkenburg lenkte, hörte er seiner Frau ernst und schweigend zu. Erst als sie geendet hatte, fuhr er auf: »Dieses Miststück! Was sie nun wieder im Schilde führt?«
Verblüfft hielt Fygen inne und schaute ihren Gatten an. »Wer? Meine Mutter?«
»Was? Nein, Grete!«
»Wahrscheinlich wird sie jetzt überall herumerzählen, dass meine Mutter leichtlebig oder Schlimmeres war«, antwortete Fygen und zuckte mit den Schultern. Angesichts dessen, was sie gerade hatte erfahren müssen, war Grete ihr ziemlich gleichgültig.
»Fygen, es ist schlimmer, als du denkst«, entgegnete Peter bedächtig. »Unterschätz deine Base nicht. Grete ist niederträchtig. Sie wird tief im Dreck wühlen und versuchen zu beweisen, dass du nicht ehelich geboren bist.«
Fygen erschrak zutiefst. Sollte ihrer missgünstigen Base das gelingen, würde sie damit bewirken können, dass Fygen ihrer Weberei verlustig ginge. Denn nach den Regeln der Zunft durfte eine Frau nur dann selbständig eine Seidenweberei betreiben, wenn sie frei und von ehelicher Geburt war.
Doch viel Zeit blieb Peter und Fygen nicht, sich um Gretes Bosheit zu sorgen. Als sie zu Hause ankamen, fanden sie einen Brief vor, der am späten Abend von einem Boten abgegeben worden war. Er trug Hermans Schrift und umfasste nur vier Worte: »Es tut mir leid.«
Im Morgengrauen machte Fygen sich auf den Weg nach Rheinbach. Doch wie anders war ihre Reise heute. Kein Gedanke an den erfrischenden Frühlingsausflug, den sie im Mai gemeinsam mit Herman unternommen hatte. Ein kühler Nieselregen hatte eingesetzt, und die Feuchtigkeit kroch Fygen trotz des mit Wachs abgedichteten Umhangs bis auf die Haut. Immer wieder trieb sie den Kutscher zur Eile an.
Am Nachmittag erreichten sie endlich Hermans Felder, und schon von weitem sah Fygen das Unglück: All die Reihen saftiger grüner Hecken waren verschwunden. Traurig und kahl standen nur die Stämme mit ihren Zweigen da, die Blätter bis auf das letzte gepflückt.
Fygen ließ den Kutscher anhalten und stieg vom Wagen. Mit wenigen Schritten hatte sie die ersten Bäume erreicht und streckte die Hand nach den Zweigen aus. Sie waren samt und sonders vertrocknet und brachen sofort, als Fygen versuchte, sie ein wenig zu biegen. Gänzlich ihrer Blätter beraubt, hatten sie nicht überleben können.
Fygen stieg auf den Wagen und hieß den Kutscher, sie weiter zu den Aufzuchtsschuppen zu bringen. Acht waren es mittlerweile, die verwaist im trüben Grau des Nachmittags dalagen. Weit und breit war keiner von den Arbeitern zu sehen, die Herman eingestellt hatte und die
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