Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
Vom Netzwerk:
und versuchte krampfhaft, das, was sie soeben gehört hatte, in kleine verständliche Stücke zu zerteilen, um es begreifen zu können. Plötzlich wusste sie, an wen Hackenays bernsteinfarbene Augen sie erinnerten. Hunderte von Malen hatte sie diese schon im Spiegel erblickt. Das also hatte Onkel Mathys gemeint, als er sich so abfällig über seine Schwester geäußert hatte. Fygen schluckte trocken. Wie eine Flut brachen die Fragen über sie herein. Was für ein Mensch war ihre Mutter gewesen? Fygen schien, als würde das erhabene Bild, das sie sich als Kind von ihr gemacht hatte, grausam von seinem Sockel gestoßen. War ihre Mutter in der Tat so leichtlebig gewesen, wie es nun schien? Und ihr Vater, ihr geliebter Vater? Hatte er darum gewusst? Bei dem Gedanken an Konrad von Bellinghoven krampfte sich Fygens Brust zusammen. Dieser fröhliche und liebevolle Mann sollte plötzlich nicht mehr ihr Vater sein? Und sie selbst war die Tochter von Nikasius Hackenay, einem ihr gänzlich fremden Menschen? Fygen spürte, wie ein törichter Anflug von Trotz sie befiel. Für sie würde immer Konrad von Bellinghoven ihr Vater sein, da mochte Nikasius sagen, was er wollte. Fygen weigerte sich schlicht, ihn, oder wen auch immer, als ihren Vater anzusehen.
    Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Grete neugierig ihren Blick von Hackenay zu ihr wandern ließ. Dann plötzlich flackerte Verstehen über Gretes flächiges Gesicht, um nur Sekunden später einem bösen, triumphierenden Lächeln Platz zu machen. Zu dumm, dass Grete nicht die Schwerhörigkeit ihrer Mutter geerbt hatte.
    Immer noch ruhte Nikasius’ Blick auf Fygens Antlitz. Irma war also tot, dachte er und verspürte einen Anflug von Bedauern. Und jetzt, nach so langer Zeit, führte ihm das Schicksal plötzlich ihre Tochter in den Weg. Die Begegnung hatte ihn ein wenig aus der Fassung gebracht, stellte er fest, und er bemühte sich, seine gewohnt überlegene Haltung wiederzugewinnen. Fygen war eine anziehende Frau. Sie war nicht mehr so jung, wie Irma damals gewesen war, und die Tochter war auch keine so auffallende Schönheit geworden, wie ihre Mutter einst war, damals vor weit mehr als einem halben Leben, dachte er. Eine Ewigkeit lang hatte er nicht mehr an Irma gedacht, sich nie gefragt, was aus ihr geworden war. Er hatte an seine Zukunft denken müssen, damals. Da war kein Platz gewesen für gefühlstriefende Gedanken. Auch als er Fygen zum ersten Mal begegnet war, als sie ihn in seinem Haus aufgesucht hatte, war der Gedanke an Irma nur wie ein kurzes Irrlicht aufgeflackert, und er hatte ihn alsbald wieder erfolgreich in die Tiefen des Vergessens zurückgestoßen.
    Energisch schüttelte Nikasius das eisgraue Haupt, um die Erinnerungen abermals dorthin zu vertreiben, wo sie hingehörten. Es konnte weder Fygen noch ihm nützen, die Vergangenheit auferstehen zu lassen, ganz im Gegenteil. Was vorbei war, war vorbei. Man konnte die Zeit nun einmal nicht zurückbringen, da machte es auch keinen Sinn, mehr Gedanken als nötig daran zu verschwenden, geschweige denn ein Wort darüber zu verlieren.
    Der Rechenmeister holte tief Luft und straffte sich. Sein Gesicht schien langsam seine Farbe zurückzugewinnen und zeigte nun wieder die höfliche, ein wenig distanzierte Miene des galanten Gastgebers. »Nun, ich hoffe, die Damen amüsieren sich gut«, sagte er. »Einen schönen Abend wünsche ich Euch.« Beherrscht nickte er Fygen und Katryn zu, dann wandte er sich, ohne ein weiteres Wort der Erklärung, ab, um andere Gäste zu begrüßen.
    Verwirrt starrte Fygen der aufrechten Gestalt nach, die in der Menge der anderen Gäste verschwand. Ihre Gefühle wirbelten durcheinander. Bestürzung überfiel sie, und aus unerfindlichem Grund fühlte sie sich von Nikasius abgelehnt und zurückgestoßen und – seltsam genug – ein wenig verletzt. Zwar legte sie keinen ernsthaften Wert darauf, ihre Bekanntschaft mit dem Rechenmeister zu vertiefen, aber so abrupt hätte er das Gespräch nicht beenden müssen. Wie konnte er ihr etwas Derartiges offenbaren, um sie dann so ohne weiteres stehen zu lassen? Fygens Verletztheit wich einer ebenso widersinnigen Empörung. War er wirklich so gleichgültig? Oder mehr noch: kaltblütig? Fast mochte Fygen das glauben. Doch da war diese Überraschung in seinem Gesicht gewesen. Das Erschrecken, als er ihrer ansichtig wurde, seine weiche Stimme, als er erkannte, dass sie wahrhaftig seine eigene Tochter war. Nein, Nikasius war nicht so hart, wie er zu sein

Weitere Kostenlose Bücher