Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
Tochter nicht sprechen, trotz des Flehens ihrer Mutter.»
Teresi brach der kalte Schweiß aus. Barone Lo Mascolo musste verrückt geworden sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Tatsächlich gab es in der Familie einen vom Wahnsinn befallenen Zweig. War die Schwester des Barons, Donna Romila, nicht Nonne geworden? Und war sie nicht nach zwanzig Jahren Klausur eines Tages aus dem Kloster gekommen, um nackt auf der Straße zu tanzen?
«Ähm, aber Sie wissen doch, verehrter Barone, trotz allen Betens und Bittens wollen die Toten gewöhnlich leider nicht wieder …»
«Welche Toten?»
Teresi wischte sich den Schweiß von der Stirn.
«Barone, wenn ich Sie nicht missverstanden habe, sagten Sie mir soeben, dass Ihre Tochter tot ist, und darum …»
«Für mich ist sie tot. Für ihre Mutter nicht.»
Dann war die Baronessa auch verrückt geworden? Beide Eheleute gemeinsam dem Wahnsinn verfallen? In manchen Familien kommt das durchaus vor. Hatte Signora Rossitano sich nicht für eine Wespe und ihr Ehemann sich für eine Hornisse gehalten? Und verständigten sich die beiden nicht durch Laute wie ssssss und zzzzzzz?
«Hören Sie, Barone, es ist vielleicht besser, wenn Sie nach Hause gehen und …»
«Ich gehe nach Hause, sobald ich Ihren Neffen erschossen habe.»
Diesmal sprang Teresi vor Zorn auf, ihm war endgültig der Kragen geplatzt.
«Wollen Sie mir bitte endlich erklären, warum zum Teufel Sie Stefano umbringen wollen? Was hat er denn mit dieser Geschichte zu tun?»
«Er hat damit zu tun, und wie. Niemand anderes als er kann meine Tochter Antonietta geschwängert haben.»
Das Hausmädchen Giseffa kam im Haus ihres Vaters im Vicolo Raspa an, als die Rathausuhr vier Uhr morgens schlug. Um vier Uhr fünf öffnete Giseffas Mutter Nunziata das Fenster und schrie auf die Gasse hinaus:
«Die Cholera! Die Cholera!»
Da der Vicolo Raspa sehr eng war, wurde ihre Stimme in allen fünfundzwanzig umliegenden Wohnungen gehört. Die ersten, die loszogen, um aufs Land zu flüchten, waren die Cumella, dann brachen die Licata auf, dann die Bonacciò, die Gaglio, die Bonadonna, die Restivo … Kurzum, gegen fünf Uhr gab es in der Gasse nur noch sieben Katzen, zwei Hunde und Tano Pullara, der neunzig Jahre alt war und sich geweigert hatte, mit den anderen zu gehen, die Cholera sei ihm willkommen, er habe keine Lust mehr zum Leben.
Als Gesummino Torregrossa, der jeden Morgen seinen Freund Girlanno Tummuninia abholen kam, um zusammen mit ihm zur Arbeit zu gehen, um zehn nach fünf keinen Menschen mehr im Vicolo vorfand und nur Tano Pullara vor seiner ebenerdigen Kammer sitzen sah, fragte er ihn entsetzt, was denn passiert sei.
«Die Cholera ist ausgebrochen», gab dieser zur Antwort.
«Wer sagt das?»
«Don Anselmo Buttafava.»
Gesummino drehte sich auf dem Absatz um und rannte zurück in den Vicolo Centostelle, wo er wohnte. Um halb sechs war auch diese Gasse menschenleer.
Vor der Frühmesse um sechs schienen die Pfarrer die Nachricht einander schon weitergegeben zu haben.
In den Kirchen sah man Gesichter, die man dort noch nie gesehen hatte: Diener, Kutscher, Stallknechte, Feldarbeiter, Mägde, Ammen und Köchinnen der Palazzi hatten zusammen mit ihrer Herrschaft Platz genommen, und alle beteten zu Gott, er möge sie vor der Cholera verschonen.
Außerdem waren Leute auf der Durchreise da, die sich noch rasch den Segen des Pfarrers abholen wollten, bevor sie aufs Land flohen. Drei Familien fehlten jedoch in ihrer jeweiligen Kirche: die von Don Anselmo Buttafava, die von Marchese Cammarata und die Familie von Barone Lo Mascolo.
Bekanntlich gibt es bei der Frühmesse keine Predigt.
An diesem Tag aber schienen die Pfarrer auf der Kanzel Wurzeln zu schlagen, und statt zu predigen, ergingen sie sich in Beleidigungen und Verwünschungen.
Padre Eriberto Raccuglia tönte:
«Hatte ich euch nicht gesagt, dass diese Stadt wie Sodom und Gomorrha enden würde? Treibt den Teufel aus, der in Gestalt von Avvocato Teresi …»
Padre Alessio Terranova wetterte:
«Es ist zwecklos, zu weinen und Gott anzuflehen, er möge euch vor der Cholera beschützen! Zuerst muss die Stadt befreit werden!»
Padre Filiberto Cusa befahl:
«Das Unkraut muss ausgerissen werden!»
Padre Alighiero Scurria höhnte:
«Jetzt weint ihr, was? Jetzt betet ihr, wie? Eine blöde, blökende Schafherde seid ihr! Aber als ich euch gesagt habe, dass Teresi der Teufel in Person ist, was habt ihr da getan? Nichts! Vielleicht bleibt euch noch ein bisschen
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