Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
zurücklassen würde.
Doch wenn man die Wahl zwischen Cholera und Räubern hatte, gab es keinen Zweifel.
«Spann den Wagen an! Spann den Wagen an!»
Die Forcaiola war ein Lehen im Besitz des ältesten Vetters von Don Anselmo, Don Lovicino Scattola, welcher derzeit im Gefängnis von Palermo eingesperrt war, wo er sieben Jahre absitzen musste, weil er auf einem Jagdausflug Don Michelangelo Fichera erschossen hatte. Dieser hatte fünf Minuten vor der Tat nämlich behauptet, Don Lovicino sei es in seinem ganzen Leben noch nie gelungen, ein Kaninchen oder einen Hasen zu schießen, er könne ja nicht einmal einen Elefanten aus einem halben Meter Abstand treffen. Also hatte Lovicino den Mann aus zehn Metern Entfernung erschossen und dessen ehrenrührige Behauptung auf diese Weise vor Zeugen widerlegt.
Benuzzo Cogliastro, den Feldhüter von Don Lovicino, hatte die Nachricht von der Verurteilung seines Padrone in Hochstimmung versetzt: Sieben Jahre lang würde er der Besitzer des Lehens sein. Doch eines Tages war Don Anselmo mit einer ordnungsgemäßen Vollmacht des Vetters bei ihm aufgetaucht, und von dem Moment an war Benuzzo ihm feindlich gesonnen. Darum ließ Don Anselmo sich fast nie in der Gegend blicken, er fuhr nur hin, wenn er unbedingt musste. Wie in diesem Fall.
In tiefer Nacht kamen sie an, zum Glück ohne dem Briganten Salamone begegnet zu sein. Der Hof sah fast genauso aus wie der in San Giusippuzzo. Die Rollläden an Benuzzos Haus schienen nicht geschlossen, aber es gab nicht den kleinsten Lichtschimmer, gewiss lag die ganze Familie in tiefem Schlaf. Girolamu holte die Karrenlaterne unter der Kutsche hervor und leuchtete Don Anselmo, der schon die Schlüssel in der Hand hielt, um das Eingangstor der Villa zu öffnen. Signora Agata hatte sich geweigert, aus der Kutsche zu steigen, bevor nicht alle Petroleumlampen am Eingang angezündet waren.
Don Anselmo, dem wegen der Anstrengung die Hand zitterte, schaffte es erst beim dritten Versuch, den Schlüssel ins Türschloss zu stecken. Und genau in diesem Moment ertönte ohrenbetäubend ein Schuss. Wenige Zentimeter von Don Anselmos Kopf entfernt schlug die Kugel des Jagdgewehrs ein Loch ins Holz der Tür. Von dem Knall erschreckt, gingen die beiden Pferde durch und rasten auf den Hofausgang zu, während Signora Agata in der Kutsche verzweifelt schrie. Die Tiere hatten die Kurve jedoch zu eng genommen, das linke Rad stieß gegen die Mauer, und die Kutsche kippte um.
«Ich bin tot!», schrie Signora Agata, bevor sie in Ohnmacht fiel.
«Verschwindet, oder ich bring euch alle um!», rief eine wütende Männerstimme.
Don Anselmo, der sich, vor Angst am ganzen Leibe zitternd, auf den Boden geworfen hatte, erkannte die Stimme des Feldhüters Benuzzo.
«Benuzzo! Ich bin’s, Don Anselmo! Nicht schießen!»
Als Antwort sah Don Anselmo einen Blitz aus einem der Fenster des Hauses von Benuzzo kommen und schloss die Augen.
«Ich bin tot!», dachte er.
Wieder traf ein Schuss die Eingangstür.
«Du bist nicht Don Anselmo, du bist der Brigant Salamone und willst mich verarschen!», rief Benuzzo.
«Holt mich raus! Hilfe! Holt mich hier raus!», schrie unterdessen Signora Agata, aus ihrer Ohnmacht erwacht.
Girolamu, der bäuchlings auf dem Boden lag und laut zur Madonna betete, war die Karrenlaterne aus der Hand gefallen, und das brachte Don Anselmo in seiner Not auf eine Idee.
Er streckte die Hand aus, nahm die Lampe und hielt sie sich vors Gesicht.
«Sieh mich an, Drecksack! Ich bin’s, Don Anselmo!»
«Was? Eccellenza, Ihr seid es? Ich hatte Euch nicht erkannt, bitte um Verzeihung. Ihr hättet mir Bescheid sagen sollen, dass Ihr kommt! Ich bin sofort bei Euch.»
Noch während der Feldhüter sprach, erkannte Don Anselmo an seinem Tonfall, dass Benuzzo vom ersten Augenblick an, schon als die Kutsche auf den Hof gefahren war, genau gewusst hatte, dass es sein Padrone war und nicht der Räuber Salamone.
Er hatte absichtlich auf ihn geschossen, dieser elende Hurensohn!
Doch Don Anselmo konnte sich nicht mehr erheben. Sein ganzer Körper schmerzte.
«Lauf und hilf der Signora!», schrie er Girolamu an.
Nun vernahm man im Hause Benuzzo die Stimmen seiner Frau Ciccina, seines Sohns Paolino und seiner Tochter Michilina, die sich in aller Eile ankleideten, um die soeben angekommenen Herrschaften zu empfangen.
Benuzzo stürzte mit keuchendem Atem und einer Lampe herbei und bückte sich, um Don Anselmo zu betrachten. In der anderen Hand hielt er noch immer das
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