Die sieben Finger des Todes
Heute morgen hob ich ihn eigenhändig aus dem Körbchen. Hier drinnen habe ich ihn mit Sicherheit nicht gesehen, obgleich das natürlich nicht viel heißt, denn ich war Vaters wegen so außer mir und mit ihm so beschäftigt, daß ich Silvio nicht bemerkt hätte.«
Der Doktor schüttelte den Kopf, als er mit einem Anflug von Bekümmerung sagte: »Nun, jedenfalls hat es im Moment keinen Zweck, irgend etwas zu beweisen. Jede Katze der Welt hätte in einem Bruchteil der mittlerweile verstrichenen Zeit ihre Krallen von Blutspuren gesäubert – falls es überhaupt welche gab.«
Wieder trat Schweigen ein. Und wieder brach Miß Trelawny das Schweigen.
»Wenn ich es recht überlege, dann kann es nicht der arme Silvio gewesen sein, der Vater verletzte. Meine Tür war abgeschlossen, als ich das Geräusch erstmals hörte. Und Vaters Tür war geschlossen, als ich daran lauschte. Und als ich eintrat, da waren die Wundmale schon vorhanden. Sie sind ihm zugefügt worden, ehe Silvio die Möglichkeit hatte, einzudringen.«
Diese Begründung war ausreichend, besonders für mich als Juristen, denn sie hätte als Beweis vor Geschworenen genügt. Und mir persönlich war es sehr angenehm, daß man Silvio freigesprochen hatte – möglicherweise, weil er Miß Trelawny gehörte und ihre Liebe besaß. Glücklicher Kater! Silvios Herrin freute sich sichtlich, als ich sagte: »Urteil nicht schuldig!«
Und Doktor Winchester setzte nach einer kleinen Wei le hinzu: »Dann muß ich mich wohl bei Silvio entschuldigen. Dennoch möchte ich zu gern wissen, warum er so heftig gegen diese Mumie ist. Verhält er sich gegen die anderen Mumien hier im Haus ähnlich? Ich nehme an, es gibt hier ziemlich viele. Allein drei sah ich in der Diele.«
»Ja, sehr viele«, erwiderte sie. »Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich mich in einem Privathaus oder im Britischen Museum befinde. Silvio aber lassen alle bis auf die eine kalt. Vermutlich deswegen, weil es eine Tiermumie ist.«
»Vielleicht sogar die Mumie einer Katze!« meinte der Doktor, der nun aufstand und sich die Mumie näher besah. »Ja«, fuhr er fort, »es ist eine Katzenmumie. Und überdies eine sehr schöne Mumie. Hätte es sich nicht um den Liebling einer bedeutenden Person gehandelt, wäre dem Tier wohl keine solche Ehre zuteil geworden. Sehen Sie! Ein bemaltes Gehäuse und die Augen aus Obsidian – wie bei einer menschlichen Mumie. Wie seltsam, daß ein Tier die eigene Gattung erkennt. Dies hier ist eine tote Katze – mehr nicht. Vielleicht vier- oder fünftausend Jahre alt – und eine zweite Katze einer anderen Rasse in einer praktisch völlig anderen Welt will sich auf sie stürzen, als wäre sie noch am Leben. Wenn Sie nichts dagegen haben, Miß Trelawny, würde ich mit dem Tier gern ein paar Versuche unternehmen?«
Sie zögerte, ehe sie sagte: »Ja, natürlich, tun Sie alles, was sie für nötig und richtig halten. Ich hoffe nur, es wird meinem armen Silvio nicht schaden.«
»Ach, Silvio geschieht schon nichts. Sparen wir unser Mitgefühl lieber für die andere auf.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Jung Silvio soll den Angreifer spielen, die andere Katze ist der leidende Teil.«
»Leidend?« Das klang schmerzlich. Der Doktor lächelte breit.
»Keine Angst, es ist kein Leiden in unserem Sinn. Es wird höchstens Struktur und Äußeres beeinflußt.«
»Was um Himmels willen meinen Sie eigentlich?«
»Ganz einfach, meine liebe junge Dame: Der Gegner wird eine Mumie wie diese hier sein. Ich nehme an, daß man davon in der Museum Street jede Menge bekommen kann – hoffentlich haben Sie nicht das Gefühl, daß ein kurzer Austausch gegen die Anweisungen Ihres Vaters verstößt. Und dann werden wir zunächst mal herausfinden, ob sich Silvios Abneigung auf alle Mumienkatzen erstreckt oder nur auf diese eine.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte sie, von Zweifeln geplagt. »Vaters Anweisungen klingen so kompromißlos.« Und nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: »Aber unter den gegebenen Umständen muß natürlich alles unternommen werden, was seinem Wohl dient. Ich denke doch, daß an einer Katzenmumie nichts Besonderes ist.«
Doktor Winchester sagte gar nichts. Er saß reglos und mit so ernstem Gesicht da, daß dieser tiefe Ernst auch mich erfaßte. Und in diesem Zustand erhellender Unruhe wurde mir es erst richtig klar, wie sonderbar der Fall war, mit dem ich jetzt so intensiv befaßt war. Dieser einmal gedachte Einfall fand kein Ende. Statt dessen wuchs er, blühte auf und
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