Die siebte Gemeinde (German Edition)
Je länger er suchte, umso aggressiver wurde er. Blindlings griff er Bücher vom Regal, schüttelte sie und warf sie achtlos in die Ecke, riss hasserfüllt Blätter aus den Folianten, schleuderte sie auf die Dielen und trampelte darauf herum. Zwischenzeitig hatte er zwei dieser Dokumente gefunden, von denen ihm Robert Seydel erzählt hatte, aber sie achtlos liegen lassen. Sein Boss hatte ihm erklärt, dass sie eine Rolle wollten. Was der Meister suchte, war eine komplett erhaltene Schriftrolle, keine einzelnen Seiten.
Die Eingangsglocke läutete. Ein Schauder zog sich über seinen Rücken. Sollte die Polizei zurückgekommen sein? Vollgepumpt mit Adrenalin lauschte er den Stimmen im unteren Stockwerk. Lange brauchte er nicht zu überlegen, um zu wissen, wer den Laden betreten hatte. Das »Tok-Tok« der Stiefel von Emma Kemmerling erkannte er sofort. Das Weib wurde ihm langsam lästig. Doch diesmal näherte sich das Klacken nicht über die Treppe, sondern verschwand im Büroraum hinter dem Vorhang.
Sachte legte er das Buch, welches er gerade in seiner Hand gehalten hatte, auf den Boden und verließ den Antiquitätenladen durch den Hintereingang.
»Ich bekomme schon meine Chance«, zauderte er leise und zog seine Wollmütze ins Gesicht. »Auch wenn es bedeutet, dass ich noch jemanden beseitigen muss.«
»Moment mal?«, fragte Emma verwirrt und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch nieder. Sie schaute irritiert zwischen den beiden Männern hin und her. »Reden wir hier vom Leichentuch von Jesus Christus? Das, was sie irgendwo in Italien ausgestellt haben?«
»Richtig«, bestätigte Elias. »In Turin, um genau zu sein.«
»Ja, aber haben Sie nicht gerade gesagt, dass es 1204 in Konstantinopel gestohlen wurde. Das verstehe ich nicht. Ist es nun da, oder nicht?«
»Nun ja«, sagte der Professor, »um das Turiner Grab- beziehungsweise Leichentuch gibt es eine Menge Gerüchte und Sagen. Zum einen über den langen Weg des Tuches bis hin nach Turin und zum anderen solche über dessen Echtheit.«
»Wie jetzt?«, fragte Emma. »Erst ist es gestohlen worden und befindet sich dann doch in Turin, und nun soll es nicht einmal echt sein?«
»Ganz so dramatisch ist es nicht«, erklärte der Professor, während er gestikulierend wie bei einer Vorlesung hinter seinem Schreibtisch auf und ab lief. »Das Tuch findet seine erste geschichtliche Erwähnung in Edessa. Das liegt ungefähr im Südosten der heutigen Türkei. Dort berichtete man erstmals von einem ›außergewöhnlichen Tuch göttlicher Herkunft mit einem Gesicht darauf‹. Im Jahr 944 wurde es von den Byzantinern nach der Eroberung Edessas feierlich nach Konstantinopel überführt, wo es regelmäßig königlichen Delegationen präsentiert wurde. Als die Kreuzritter während des vierten Kreuzzuges die Stadt Konstantinopel einnahmen, verschwand es plötzlich. Damals wurden fast sämtliche christliche Reliquien, obwohl unter Todesstrafe verboten, aus der Stadt geplündert. Lange Zeit war das Tuch verschwunden, bis es zirka 150 Jahre später wieder auftauchte. Es heißt, es sei in der Zwischenzeit Eigentum des Templerordens gewesen. Irgendwann im 15. Jahrhundert kam es dann in den Besitz des Hauses von Savoyen, die es nach Turin brachten, wo es an verschiedenen Orten der Stadt aufbewahrt wurde. Dort ist es bis heute.« Er blieb abrupt stehen und schaute Emma durchdringend an. »Vereinfacht erzählt natürlich.«
»Natürlich«, nickte Emma und grinste verständnisvoll.
»Bezüglich der Echtheit«, setzte der Professor fort, »gab es viel verrücktere Theorien. Eine davon besagt, dass Leonardo da Vinci das Tuch hergestellt haben soll.«
»Ihm werden so ziemlich sämtliche Verschwörungstheorien aus dem Mittelalter zugeschrieben«, ergänzte Elias lächelnd.
»Genau, der arme Mann ist sozusagen die eierlegende Wollmilchsau für alle Verschwörungstheoretiker. Aber diese Tat traue ich ihm nicht zu. Zumal bewiesen ist, dass es sich um ein Tuch handelt, das zu der Zeit Jesu Christi gewebt wurde und auf dem man Pflanzenelemente entdeckt hat, die es nur in Palästina und Umgebung gegeben haben soll. Leonardo da Vinci hätte gehörig suchen müssen, um zufällig ein solches Tuch für seine Fälschung aufzutreiben.« Der Professor atmete tief ein. »Ebenfalls ist bewiesen, dass es sich um einen Negativabdruck eines Körpers handelt, das bedeutet, er wurde nicht aufgemalt. Viele Beweise, die zumindest darauf hindeuten, dass es sich um ein Leichentuch handelt. Ob es
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