Die siebte Gemeinde (German Edition)
freundlichen Händedruck.
Emma war außerordentlich überrascht, was den Anblick von Professor Heinrich anging. Dieser Mann sah alles andere aus, als wäre er ein alternder Geschichtsprofessor mit silbrig grauem Haar, Nickelbrille und abgewetzter Kordhose. So oder so ähnlich hatte sie ihn sich zumindest vorgestellt, als sie im Taxi zur Universität fuhren. Nein, vielmehr stand vor ihr ein Mann, dem das Alter scheinbar nichts anhaben konnte. Hätte sie nicht vor ein paar Sekunden gehört, dass er 61 Jahre alt ist, sie hätte ihn auf Anfang vierzig geschätzt. Er hielt mit beiden Händen Emmas rechte Hand und blickte ihr, immer noch lächelnd, direkt in die Augen. Erst beim näheren Hinsehen konnte sie wenige Falten um seine Augenpartie herum erkennen.
»Emma Kemmerling. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Professor Heinrich«, antwortete Emma und löste sich von seinem Händedruck.
»Angenehm, Frau Kemmerling. Ich bin Gustav Heinrich.« Er drehte sich zu Elias. »Nun, wie kann ich euch weiterhelfen?«
»Nicht hier«, antwortete Elias. »Lass uns in dein Büro gehen.«
»Gerne. Möchtet ihr einen Kaffee trinken?«
Elias und Emma nickten stumm.
»Prima, ich könnte gut selbst einen gebrauchen. Hiltrud, bringst du uns bitte drei Kaffee. Wir sind drüben in meinem Büro.«
»Gustav, du musst uns dringend weiterhelfen«, eröffnete Elias sofort das Gespräch, als der Professor die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Wir haben ein Dokument, womit wir nicht klarkommen.«
»Macht es nicht so spannend. Raus damit!« Voller Vorfreude rieb er sich seine Hände.
Emma stellte ihre Tasche auf den Schreibtisch, zog ihr Fundstück hervor und breitete es vor dem Professor aus. Ein Raunen ging über dessen Lippen. »Wo haben Sie das her, Frau Kemmerling?«
»Sagen wir, es war in einer meiner Kommoden«, antwortete Elias. Er stellte sich neben den Professor und fuhr fort. »Ein paar Worte habe ich schon übersetzt. Hier ...« Er deutete auf seine Vermutungen. »Wenn ich mich nicht total vertue, heißt das in der Mitte: Konstantinopel im April 1204, und hier weiter unten, die drei Worte auf Latein bedeuten: Christus-Offenbarungs-Aufzeichnung. Zumindest ohne Sinn übersetzt.«
Der Professor nickte zustimmend. »Wie ich sehe, ist doch einiges in deinem Spatzenhirn hängen geblieben.«
Interessiert senkte er den Kopf und widmete sich den Aufzeichnungen. Lange Zeit herrschte Stille im Raum, und Emma hörte nichts als ihren eigenen Atem. Unterbrochen wurde die Ruhe für einen Moment von Hiltrud Kirchner, die zwischendurch mit einem Tablett voll klappernder Kaffeetassen den Raum betrat.
»Sagen Sie, gibt es noch mehr als dieses eine Dokument?«, fragte Heinrich nach ewig erscheinenden Minuten.
»Wir sind uns ziemlich sicher, dass es noch mehrere Teile gibt«, antwortete Elias. »Wir sind noch auf der Suche nach dem Rest.«
»Es handelt sich um einen Zufallsfund, müssen Sie wissen«, warf Emma ein.
»Einige Dinge sind mir zwar noch unklar ...«, fuhr der Professor fort und tippte auf das untere Drittel des Schriftstücks. »... vor allem dieser Abschnitt. Das scheinen mir keine typischen griechischen Worte zu sein. Aber wenn ich die oberen Absätze auf den ersten Blick richtig entziffert habe, dann habt ihr einen Wahnsinnsfund an Land gezogen.«
»Und das bedeutet?«, fragte Emma unruhig.
»Wenn ich einmal dessen Echtheit voraussetze«, berichtete der Professor, »und das scheint mir aufgrund der Aufmachung wahrscheinlich zu sein, dann haben wir hier einen Zeitzeugenbericht vom vierten Kreuzzug vor uns liegen. Sehr viele gibt es nicht, … dieser könnte der dritte voll erhaltene Bericht sein, sofern es noch mehr Seiten als diese gibt.«
Emma zog die Stirn in Falten. »Ehrlich? Heißt das, es gibt nur zwei Berichte aus dieser Zeit?«
»Na ja, fast, Frau Kemmerling«, nickte Gustav Heinrich. »Zum einen ist vieles aus dieser Zeit vernichtet worden. Zahlreiche Archive und Kirchen, wo man solche Unterlagen aufbewahrte, sind nach etlichen Plünderungen niedergebrannt worden. Zum anderen konnten viele der damaligen Menschen im Mittelalter überhaupt nicht schreiben. Somit zieht man die heutigen Erkenntnisse des vierten Kreuzzugs überwiegend aus den beiden Berichten von Gottfried von Villehardouin und von Niketas Choniates. Gottfried von Villehardouin war ein Kreuzritter und französischer Adeliger und Niketas Choniates ein byzantinischer Staatsmann. Da die Berichte ein wenig einseitig und sehr ausschmückend aus der
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