Die siebte Gemeinde (German Edition)
wollte, was auf diesen Dokumenten stand, sondern weil ihr der eiskalte Ostwind durch die Haare pfiff und sie bis in die kleinen Zehen schaudern ließ. Normalerweise würde sie um diese Zeit noch im Bett liegen und sich so lange drehen, wie es ihr geschundener Rücken zuließ. Doch normal war in Emmas Leben nichts mehr. Alles drehte sich nur noch um Dokumente oder um verschlüsselte Reime.
Sie blickte abwechselnd auf ihre Uhr und zum wiederholten Male über ihre Schulter zurück auf die Terrasse. Hatte sie die Tür richtig verschlossen?
Nachdem sie gestern den Antiquitätenladen verlassen hatte, begann sie sich Zuhause einbruchsicher abzuschotten. Sie hatte sämtliche Riegel im Haus dreifach kontrolliert und klemmte einen Besen von innen gegen die Tür. Matteo wusste, wo sie wohnte, das hatte sie nicht ruhiger gemacht. Jeden Augenblick hätte er wieder vor ihrer Tür stehen können. Trotz der Eisenschlösser an ihrer Wohnungstür hatten sie kurzzeitige Angstattacken übermannt. Sie hatte es nicht geschafft, sich abzulenken. Weder ein Buch noch der Fernseher konnten ihr helfen. Es war niemand da, mit dem sie hätte sprechen können, nicht einmal eine Katze. Lediglich der Orchidee, die auf der Fensterbank vor sich hinvegetierte, hatte sie ab und an einen bösartigen Fluch zugeworfen, um ihre eigene Stimme hören zu können.
In der darauffolgenden Nacht fand sie kaum Schlaf. Beim kleinsten Knacken war sie aufgeschreckt und hatte das Licht eingeschaltet. Sie war sicher, nie zuvor so viele Geräusche im Haus gehört zu haben.
Nachdem sie die letzten Stunden mehr schlecht als recht zugebracht hatte, sehnte sie sich vor Kälte bibbernd Elias herbei. Sie hatte sich mollig warm eingepackt, doch kroch der scharfe Wind durch ihre Bluejeans und die Strumpfhose hindurch bis auf ihre Haut. Selbst ihr Rollkragenpulli und die schwarze Daunenjacke halfen nicht gegen die Kälte. Sie rieb sich die Hände. Was würde sie jetzt nicht darum geben, den feucht-warmen Geruch eines nahenden Gewitters in der Nase zu spüren. Stattdessen wischte sie sich in einem nicht enden wollenden Winter die gefühlstaube Triefnase.
Ein kurzes Hupen riss Emma aus ihrem Tagtraum. Sie hatte zwar die Straße auf und ab geblickt, aber nicht bemerkt, dass Elias längst vor ihr stand.
»Da sind Sie ja endlich«, begrüßte sie ihn und setzte ein verschmitztes Lächeln auf. »Ich hätte mir beinahe den Hintern abgefroren. Kann das sein, dass es jeden Tag kälter wird, statt wärmer?«
Elias tippte auf die Uhr an seinem Armaturenbrett. »Was heißt hier ›da sind Sie ja endlich‹? Es ist zwei Minuten vor zehn. Das nenne ich in meiner Welt ›zu früh‹. Wie lange stehen Sie schon hier draußen?«
»Könnten gut fünf Minuten gewesen sein. Gefühlt waren es aber dreißig.« Sie hielt ihre Handflächen vor das Gebläse und pustete abwechselnd erst in die eine und dann in die andere Hand. »Haben Sie die Dokumente dabei?«
Elias sah sie von der Seite an. »Natürlich.« Er malte mit seinem Zeigefinger einen imaginären Strich in die Luft. »Das gibt den ersten Bonuspunkt des Tages, für intelligent gestellte Fragen.«
Emma boxte ihm gegen sein Bein. »Blödmann! Ich wollte doch nur sichergehen, dass wir nicht noch einmal umkehren müssen.«
»Ja, ne, ist klar«, lachte er und hielt sich mit einem hämischen Grinsen sein Bein. »Ich mach doch nur Spaß. Entschuldigung.«
Wenig später parkte er den Wagen auf dem Angestelltenparkplatz vor dem Philosophikum, und sie rannten durch den einsetzenden Schneesturm in das Gebäude. Seine große braune Architektentasche, in der er die Dokumente gepackt hatte, hielt Elias schützend vor sein Gesicht.
»Oh Mann, ich bin ganz schön aufgeregt«, sagte Emma, während sie hinter Elias im Treppenhaus herhastete.
»Mir geht es genauso«, nickte er und sprang die letzten zwei Stufen mit einem Satz nach oben.
Elias klopfte an Hiltrud Kirchners Tür und stürzte, ohne eine Antwort abzuwarten in das Büro der Sekretärin. Der Schreibtisch von Frau Kirchner war verlassen. Lediglich die grüne Oase leuchtete hinter dem Tisch hervor. Emma rechnete bei dem Anblick der Pflanzen augenblicklich mit einem Schmetterling, der aufgeschreckt zwischen den Blättern umherflatterte.
»Gustav?«, rief Elias durch den Raum. »Bist du da?«
Entschlossen schritt er zur Verbindungstür.
Wieder mehr aus Höflichkeit klopfte er kaum hörbar an und polterte in das Büro. Doch anstatt auf einen Professor zu treffen, der mit gesenktem Haupt
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