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Die Signatur des Mörders - Roman

Titel: Die Signatur des Mörders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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es unerträglich, allein in ihre Wohnung zurückzukehren, in der sie zudem seit Tagen nicht mehr gewesen war. Hastig überquerte sie den Roßmarkt, um das größte Schuhgeschäft Frankfurts zu betreten. Schuhe waren ihr Hobby, eine Leidenschaft, die zugegebenermaßen Charakterschwäche offenbarte. Andererseits befand sich ihr gesamter Schuhbestand bis auf wenige ungeliebte Ausnahmen in Henris Kleiderschrank. Sie hatte keine Ahnung, wie sie an diese herankommen sollte, ohne ein privates Wort mit ihm zu wechseln.
    Nach dem Besuch im Krankenhaus befand sich Myriam in einem seltsamen Zustand von Unruhe. Unzählige Gedanken und Bilder gingen ihr durch den Kopf. Sie hasste dieses Kribbeln auf ihrer Haut, diese Anspannung, diesen Drang, irgendetwas unternehmen zu müssen, sei es auch nur, Schuhe zu kaufen.
    Und so strich sie die Regale entlang wie eine Kleptomanin. Sie würde jedes Paar anprobieren, das ihr zwischen die Finger kam. Je unvernünftiger, desto besser. Sie griff nach einem Paar brauner Sandaletten, Absatzhöhe acht Zentimeter, mit denen sie die Schallgrenze von Einmeterundachtzig mit Leichtigkeit übertreffen würde. Dünne Riemchen waren dazu gedacht, sich um die Fußgelenke zu schlingen, damit man wenigstens die Illusion hatte, Halt zu finden.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Neben ihr tauchte eine Verkäuferin auf.
    Mir ist nicht zu helfen, dachte Myriam, um gleich darauf ein »Danke, ich komme schon zurecht« hinterherzuschieben, verpackt in ein verlogenes Lächeln.
    Die Sandaletten in der Hand, ging Myriam weiter, blieb jedoch sofort wieder vor einem Regal mit Turnschuhen stehen. Sie könnte anfangen zu joggen. Alle Singles joggten, und wie es aussah, lief alles darauf hinaus, dass auch sie bald wieder zu dieser menschlichen Spezies gehören würde. Singles konzentrierten sich auf vernünftige Dinge - Sport, gesunde Ernährung, kulturelle Veranstaltungen.
    Sie griff nach dem erstbesten Paar Sportschuhe, das ihr zwischen die Finger kam, setzte sich, um sie anzuprobieren, erhob sich wieder, lief einige Meter im Geschäft hin und her, versuchte sich vorzustellen, was es für ein Gefühl wäre, einfach allem davonzulaufen.
    Feuchter Waldboden, auf dem die Füße abfedern. Stille. Der Geruch nach Holz. Die Geschwindigkeit. Die Muskeln spüren. Den Verstand abschalten.
    Warum hatte Helena Baarova sich nicht gewehrt? Das war das Schlimmste. Gewalt erdulden.
    Du weißt, warum, sagte sich Myriam. Du hast es gespürt. Im letzten Jahr. Diese Stimme an deinem Ohr. Die Hand in deinen Haaren. Das Blut im Mund, das sie noch immer schmeckte, sobald sie daran dachte. Der Schock. Das Empfinden von Lähmung. Für einen Moment schloss sie die Augen.
    Niemand kannte sie. Sie nannten sie »eiserne Lady« und verstanden nicht, was wirklich in ihr vorging. Offenbar auch Henri nicht. Sie war sicher gewesen, er ahnte, wer sie wirklich war. Die Nächte mit ihm. Er musste es doch erkennen. Es spüren. Es registrieren.
    Eiserne Lady.
    Ausgerechnet er.Wo sie sich ihm sozusagen auf dem Silbertablett offenbart hatte. Hatte sie ihm nicht ein Jahr lang das Gegenteil bewiesen? Dass sie nicht die gefühlskalte Staatsanwältin war, zu der der Rest der Welt sie in einem Schnellverfahren verurteilt hatte? So gut wie jeder unterstellte ihr ein extremes Machtbedürfnis. Als ob es so einfach wäre. Ihre Arroganz, die Kälte, die ihr vorgeworfen wurde, entsprang der Verzweiflung. Als stände sie permanent unter Schock, den sie kaum noch wahrnahm außer an Tagen wie diesem. Ihre Arbeit war lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ein erbärmlicher Versuch, Gerechtigkeit herzustellen.
    In diese Welt sollte sie Kinder setzen? Sie sollte sich einem Kind zumuten? Nein, Mutter zu sein ängstigte sie. Ein Alltag, der sich zusammensetzte aus schlaflosen Nächten, panischen Besuchen beim Notarzt, Kindergeburtstagen, Elternsprechtagen, Schutzimpfungen usw. Banalitäten, die den Kopf belagerten, der nie wieder völlig frei sein würde. Ihr Leben lang wäre sie an ein schutzbedürftiges Wesen gebunden, das, erst unendlich eng mit ihr verknüpft, sie irgendwann hassen würde.
    Zwei Paar Schuhe in der Hand, stieß sie auf dem Weg zur Kasse gegen ein Schild, das mit dem albernen Slogan Süße Ballerina warb. Die tote Helena Baarova schob sich erneut vor ihr Auge. Nicht wie sie am Boden lag, sondern wie sie tanzte. Übelkeit überfiel Myriam. Sie musste sich setzen.
    »Geht es Ihnen nicht gut?«
    Wieder die Verkäuferin.
    Was denn? Verfolgte die Angestellte Myriam?

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