Die Signatur des Mörders - Roman
Myriam auf ihr leeres Glas. Ihr war nicht bewusst, überhaupt etwas getrunken zu haben. »Wenn Sie darauf bestehen.«
Er hob die Hand und deutete auf die beiden Gläser. Der Kellner nickte.
»Wohin reisen Sie?«, wollte Myriam wissen.
»Fragen Sie lieber, woher ich komme.«
»Woher kommen Sie?«
»Aus New York.«
Nun erkannte Myriam an den Papierbändern am Koffer die Aufschrift NY.
Der Kellner stellte den Whiskey so dicht vor sie hin, dass sie ohne Überlegung danach griff. Als sie ihn in einem Zug leer getrunken hatte, fragte sie: »Geschäftlich?«
»So kann man es nennen.«
Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Anzugjacke, die er ihr entgegenstreckte.
»Leider nein.«
»Aufgehört?«
»Vor einem Jahr.«
»Bewundernswert.«
»Ja, das sagen alle. Aber ist es nicht eigentlich feige? Ich meine, genauso gut könnte ich mich in meiner Wohnung einschließen. Oder wissen Sie, wie hoch das Risiko für einen Autounfall ist? Oder sich beim Fensterputzen das Bein zu brechen? Obwohl, ich putze so gut wie nie Fenster, also kann mir das gar nicht …« Myriam brach ab.
Wenn sie sich nicht täuschte, huschte ein sympathisches Lächeln über die Mundwinkel ihres Nachbarn. Mein Gott, es gab so viele Männer auf dieser Erde! Fast fünfzig Prozent der Erdbevölkerung waren männlich. Keine schlechte Voraussetzung, wenn man sich erneut auf der Suche befand.
Was hatte er gesagt?«
»Entschuldigen Sie, ich habe nicht zugehört.«
»Sie haben recht, ich war beruflich in New York.«
»Aha.«
»Mehr wollen Sie nicht wissen?«
»Ich möchte nicht neugierig erscheinen.«
»Kein Problem! Ich verrate es Ihnen gerne. Ich bin Neurologe.«
Nach kurzem Zögern sagte Myriam: »Mediziner? So sehen Sie nicht aus.«
»Weil ich keinen grünen Kittel trage? Wissen Sie, der ist nur für den OP.«
Myriam lachte, nein, sie kicherte albern, was er als Aufforderung empfand, ihr noch einen Whiskey zu bestellen. Sie sollte nachhause gehen.
»Wann geht Ihr Zug?«, fragte sie in der Hoffnung, dass er nicht noch auf einem vierten Glas bestand.
Er schaute auf seine Rolex. »In fünfzehn Minuten. Wollen Sie mich los sein?«
»Ja«, erwiderte Myriam. »Sie haben einen schlechten Einfluss auf mich.«
Er hob das Glas, um ihr zuzuprosten.
Nachdem Myriam ihr Glas wieder abgestellt hatte, fragte sie: »Wie viel Liter Blut besitzt ein Mensch?«
»Vier Komma fünf bis sechs Liter. Je nach Körpergewicht.«
»Wie viel davon muss man verlieren, damit man stirbt?«
»Zwei Liter.«
»Wie lange dauert es, bis man verblutet?«
»Bei einer Halsschlagaderblutung nicht länger als dreißig Sekunden.«
»Und bei vielen Wunden? Zum Beispiel Schnittwunden am ganzen Körper?«
Der Mann neben ihr betrachtete Myriam plötzlich interessiert. »Das ist nicht so einfach zu beantworten. Das kommt auf die Wunden an und wie kräftig der Kreislauf ist. In jedem Fall dauert es eine Weile. Warum fragen Sie?«
»Nur so.«
»Aha, sicher, das ist ja auch ein Thema für Smalltalk bei einem Whiskey.«
»Sie stehen Tag für Tag im OP. Worüber unterhalten Sie sich da? Über das Opfer, das vor Ihnen liegt?«
»Opfer?«, fragte der Mann. »Wir sprechen immer noch von Patienten. Ich kann nur hoffen, dass Sie bei der Polizei arbeiten. Oder planen Sie einen Mord?«
Myriam reichte dem Mann, der ihr zunehmend sympathischer wurde, die Hand: »Myriam Singer, Staatsanwältin.«
»Dr. Robert Sarrazin, Leiter der Neuropathologie an der Universitätsklinik in Gießen.«
»Arbeiten Sie auch als Gutachter?«
»Vor Gericht? Bisher nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich bin Arzt.« Er sah sie an. »Meine Aufgabe ist zu heilen.«
Myriam spürte plötzlich eine leichte Aggression in sich aufsteigen. »Und Sie denken, meine Aufgabe ist es anzuklagen?«
Er zuckte die Schultern. »Nicht jeder, der einen Menschen getötet hat, gehört ins Gefängnis.«
»Nur, wenn wir Gefängnis als Strafe sehen. Aber es kann auch ein Schutz sein. Für die Opfer, aber auch für den Täter.«
»Sie haben recht, aber ich bezweifle, dass die deutsche Justiz das so sieht.«
»Ich bin nicht die deutsche Justiz.«
»Nein, das scheint mir auch so.«
Er lächelte, und Myriam entspannte sich. Dann griff er in seine Jacketttasche und reichte Myriam seine Visitenkarte. »Hier. Falls Sie meine Dienste benötigen.«
»Ich hoffe nicht.« Myriam nahm die Karte entgegen.
»Ich meine, nicht Sie persönlich. Wirklich nicht.« Wollte er sie anmachen? Besser, sie brach auf, bevor das hier eskalierte.
»Ich
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