bewunderte.
Dieser feine Riss in seinem Leben würde mit der Zeit größer und größer werden, bis die Kluft unüberwindbar wurde.Wie sollte er Pavel beibringen, dass die Familie auseinanderbrach? Was würde es in ihm anrichten? Welches dunkle Chaos würde in seiner Seele entstehen? Und er als Vater hatte nicht den Hauch einer Chance, einen Blick in das Innere seines eigenen Kindes zu werfen. Mit der Verzweiflung musste jeder allein fertig werden. Das verstand sogar ein Kind. Pavel besaß auf wundersame Weise bereits diese natürliche Verschlossenheit, die ihn hinderte, sein Innerstes preiszugeben.
Filip schaltete das Licht im Laden an und schloss die Tür, nicht ohne einen erneuten kritischen Blick zum Himmel zu werfen, an dem sich die Wolken mit Dunkelheit vollsogen.
Es sah nach einem Unwetter aus. Nach schwarzer Tinte, dachte er, die auf einem Himmel aus Papier in bizarren Formen verläuft.
Im Innern erkannte er kaum noch die Hand vor den Augen, was durch die staubigen Scheiben der Fenster verstärkt wurde. Beim Anblick des Ladenraumes stieß Filip einen Seufzer aus. Bücher, Zeitschriften, Kataloge, Kartons, Packkisten. Die schweren Regale wirkten von Tag zu Tag bedrohlicher. In der Mitte zwei abgenutzte Eichenholztische, um Kunden Bücher zur Ansicht vorlegen zu können, doch auch sie waren vollgestellt.
Was für ein Erbe! Staubige Bücher. Totes Kapital.
Nur wenig Wertvolles. Vielleicht die tschechische Ausgabe des Narrenschiffes oder Hohlbeins Totentanz in der seltenen Ausgabe von 1538. Ach ja, und nicht zu vergessen die Erstausgaben der Literatur aus dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, dem Höhepunkt des literarischen Prags. Vergleichbar mit dem heutigen New York: Werfel, Kafka, Max Brod. Aber wer interessierte sich noch für sie?
Draußen setzte nun der starke Regen ein, den Radio Praha angekündigt hatte. Filip zog sich in den hinteren Teil des Raums zurück, wo die alten Regale aus dunklem Mahagoniholz bis hoch an die Decke reichten. Irgendwann würde er das alles hier in Flammen aufgehen lassen und nach Amerika auswandern. Er spielte kurz mit dem Gedanken, diesen Plan hier und jetzt in die Tat umzusetzen. Ein Funke, ein bisschen Glut und vorbei.
Sein Vater, ja, er war eine Koryphäe in der Welt der Bücher gewesen. Er besaß, was man Fingerspitzengefühl nannte. Und Fingerspitzengefühl brauchte man, um zu finden, was man in der Branche als »Schläfer« bezeichnete, ein Buch, ein Manuskript, dessen Wert dem ursprünglichen Verkäufer unbekannt war, für Sammler wie Rostenberg aber einen Schatz bedeutete.
Dagegen wurde Filips Alltag von vereinzelten deutschen Touristen bestimmt. In kurzen Hosen und Trekkingsandalen stürmten sie den Laden, um nach Büchern zu suchen, Hauptsache deutsch. Doch ihr Interesse galt lediglich den Abenteuern des braven Soldaten Schwejk oder alten Schinken über den Zweiten Weltkrieg.
Auch in dem kleinen Büro, das sich dem Laden anschloss, machten die Bücherstapel dem Turmbau zu Babel alle Ehre. Aber Filip fehlte die Zeit und - ja, er war ehrlich - auch die Lust, die Bücher mit Preisen zu versehen oder auch nur einen Stempel auf das Deckblatt zu drücken.
Er setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer an, um seine E-Mails zu prüfen. Auch im Internet bot er halbherzig und daher mit mäßigem Erfolg seine Dienste als Gutachter und sogenannter Bookscout an. Sein Leben kroch dahin. Er würde allenfalls eine Schleimspur in der Welt der Bücher hinterlassen.
Der Rechner fuhr langsam hoch. Cerny spürte die Ungeduld. Endlich öffnete sich das Outlookprogramm. Unter der E-Mail-Adresse
[email protected] wurden drei neue Nachrichten gemeldet. Er klickte auf »Lesen«.
Eine der Mails stammte von einem befreundeten Antiquar, die andere von Milan Hus aus Frankfurt, dem Vorsitzenden der deutschen Kafkagesellschaft und langjährigen Stammkunden seines Vaters. Mit dem dritten Absender konnte er nichts anfangen.
Er klickte auf Hus’ Nachricht. Die Einladung zu einem Gastvortrag im Goethe-Institut.
Die Gewaltfantasien Franz Kafkas - ein literarisches Tabu.
Montagabend zwanzig Uhr. Filip blieb keine Wahl. Er musste bei diesem Vortrag erscheinen. Milan Hus war ein guter Kunde, wenn er auch seit einem Jahr das Antiquariat nicht mehr betreten hatte. Seit dem Tod seiner Frau. Filip erinnerte sich vage, dass diese sich umgebracht hatte. Auf irgendeine tragische Weise.
Dann öffnete er die Nachricht des unbekannten Absenders. Sie war kurz und enthielt