Die Signatur des Mörders - Roman
muss gehen.« Myriam erhob sich, wobei sie kurz schwankte. Er hielt sie fest. Enttäuscht stellte sie fest, dass Henris Rasierwasser besser roch.
Bereits im Gehen drehte sie sich noch einmal kurz um: »Sie tragen keinen Ehering. Sind Sie nicht verheiratet?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf »Nein. Und Sie?«
»Warum nicht?«
»Vermutlich aus demselben Grund wie sie.«
»Der wäre?«
»Mich hat noch keine gefragt.«
Dass sie stark angetrunken war, merkte Myriam, sobald sie die Wohnungstür aufschloss. Dumpfe Luft schlug ihr entgegen. Augenblicklich wurde ihr übel. Sie ließ die Handtasche fallen und streifte die Lederjacke ab. Die Schuhe landeten auf einem Stapel Zeitungen, die ihre Nachbarin täglich in ihre Wohnung legte.
Das einzige Zeichen, dass Leben an diesem Ort existierte, war der Anrufbeantworter auf der Ikeakommode, der aufgeregt blinkte. Automatisch drückte sie die Abhörtaste.
»Sie haben neun neue Nachrichten.«
Während eine Nachricht nach der anderen abgespult wurde, ging sie ins Bad, wo sie sich lange das Gesicht wusch, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dreimal handelte es sich um ihre Schwester Sarah, einmal Halina, die polnische Pflegerin ihres Vaters, die erklärte, dass es ihrem Vater gut ging. Zweimal rief jemand aufreizend munter: Sie haben gewonnen. Dann waren da noch ihr Zahnarzt sowie ihre Gynäkologin, die sie über einen versäumten Termin informierte. Der letzte Anruf... nein, auch diesmal nicht Henri, sondern ihr Bankberater, der meinte, sie müssten wieder einmal einen Termin vereinbaren, um ihr Vermögen gewinnbringender anzulegen und alle Steuervorteile zu nutzen.
»Welches Vermögen?«, fragte sie laut. »Wovon spricht der Idiot?«
Nachdem sie sämtliche Nachrichten gelöscht hatte, stieß sie die Tür zur Küche auf, wo sich auf dem Tisch die Post und alte Zeitschriften neben einem verschimmelten Käsebrötchen und einem übelriechenden Milchkarton stapelten. Beim Anblick dieses Chaos wurde ihr bewusst, dass sie über zwei Wochen nicht in ihrer Wohnung gewesen war. Egal, dachte sie und warf das Brötchen mitsamt dem Teller und die Milchpackung in den Mülleimer, nahm eine Flasche Wein aus dem ansonsten leeren Kühlschrank und goss sich ein Glas voll.
Was nun?
»Singles schauen Fernsehen«, murmelte sie.
Das Gerät machte keinen Mucks. Immer wieder drückte Myriam auf den Knopf, bis sie merkte, dass der Stecker auf dem Boden lag. Das musste die Putzfrau gewesen sein, die alle vierzehn Tage kam. Sie setzte sich auf das Sofa, um Nachrichten zu sehen. Sie wollte wissen, ob sie bereits etwas über Helena Baarova sendeten.
Obwohl sie damit gerechnet hatte, erschrak sie dennoch beim Anblick des Fotos. Das Mädchen trug dasselbe rote Tanzkleid, in dem sie aufgefunden worden war.
»Na super«, sagte Myriam, »ein gefundenes Fressen für die Medien.«
In der Tat wirkte das Mädchen aufreizend, was umso wichtiger war, als der Bericht auf der These beruhte, es handele sich um den brutalen Mord an einer Prostituierten.
Bei den Worten »Die Polizei geht davon aus, dass die junge Frau ausgepeitscht wurde« trank Myriam den Wein in einem Zug aus.
»Warum?« Sie sprach erneut mit sich selbst. »Warum tut jemand so etwas?«
Nein, sie konnte es nicht verstehen. Dieses perverse Spektrum an sexuellen Vorlieben. Vielleicht war sie tatsächlich zu eisig dafür. Vielleicht hatte Henri genau das vermisst. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass rote Unterwäsche, Handschellen oder schlimmere Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte, ihre Leidenschaft anheizen könnten.
Eine Peitsche? Definitiv nein! War sie unnormal, unnatürlich, verklemmt?
In diesem Moment erinnerte sie sich wieder an die CD. Sie erhob sich, holte ihre Handtasche und nahm aus der Küche die Flasche Wein mit.
Igor Strawinsky, Le Sacre du Printemps.
Nie gehört.
Sie ging zum Schreibtisch, um den Computer anzuschalten, der langsam hochfuhr. Anschließend startete sie Firefox und gab den Titel der CD ein.
Wikipedia: Le Sacre du Printemps. Ballettmusik von Igor Strawinsky, 1913 komponiert. Aufgrund außergewöhnlicher rhythmischer und klanglicher Experimente ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts.
Myriam wollte die Seite schon verlassen, als ihre Augen plötzlich auf dem Bildschirm hängenblieben.
Zufall oder Absicht? Verhängnis oder ein gefährliches Spiel, das eskalierte?
Was auch immer. Diese Musik jedenfalls war kein Zufall.
Ihre Augen flogen ungläubig über den Text. Es war eine göttliche
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