Die Signatur des Mörders - Roman
Eingebung gewesen, nach der CD zu suchen.
»Gerade durch die abstrakte, vielleicht sogar im Grundtenor dissonante Art der Musik wird erst exzellent die eigentliche Bestimmung des Sacre umgesetzt, nämlich zu sterben, und dies auf qualvolle Weise.« Myriam spürte, wie ihr Herz schneller schlug und die Aufregung ihren ganzen Körper ergriff. »Die Erwählte tanzt ekstatisch, bis sie tot zusammenbricht.«
Von der Straße drang kein Lärm, nur die Rollläden klapperten leise.
Le Sacre du Printemps. Ein Ballett, das von der Opferung eines jungen Mädchens handelte. Sie hatte es geahnt. Myriam hatte gespürt, dass es sich nicht einfach um einen Prostituiertenmord handelte. Ihre Augen überflogen den Text auf der Suche nach weiteren Hinweisen.Völlig darauf konzentriert, hörte sie das Telefon erst spät.
Sie sprang auf, überzeugt, es wäre Henri, der sich wie immer nach einem Streit als Erster meldete.
Sie riss das Telefon aus der Ladestation, presste das Gerät aufgeregt ans Ohr und vernahm ein Knistern, ein Rauschen, dann: »Myriam?« Jemand flüsterte ihren Namen.
Sie begriff, der Anrufer sprach von einem Handy aus. Er war kaum zu verstehen.
»Henri, bist du es?«, rief sie.
Jemand lachte leise. Dann diese Stimme, die langsam und gedämpft sprach. Ein heiseres Schleifen bei jedem Wort.
»He, eiserne Lady.«
»Wer spricht da?«
»Jemand, den du kennst.«
Ihr Herzschlag erhöhte sich. Das flaue Gefühl im Magen verwandelte sich rasend schnell in heftige Übelkeit.
Handelte es sich um dieselbe Stimme wie vor gut einem Jahr? Sie konnte sich nicht erinnern.
»Ich konstatiere: Du wohnst wieder in dieser netten kleinen Wohnung im dritten Stock. O ja, ich erkenne Licht hinter dem Rollladen. Und was sehe ich? Du hast immer noch keine Lampen!« Er lachte kurz auf. »Es hat sich nichts verändert. Wir sind immer noch dieselben.«
»Was wollen Sie?«
Warum zum Teufel blieb sie höflich? Sie sollte ihm sagen, er könne sie am Arsch lecken. Stattdessen schwieg sie, wagte nicht zum Fenster zu gehen, um zu sehen, ob der Anrufer dort unten stand.
»Hat Henri dich hinausgeworfen?«
Nein, er konnte das nicht wissen!
»Denkst du noch an mich?«
Warum legte sie nicht auf?
»Sind deine Haare inzwischen gewachsen?«
Das Blut pochte in ihren Ohren. Eine erneute Welle der Übelkeit überfiel sie.
»Wer sind Sie?«
»Ich habe lange auf dich gewartet.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Du bist wieder zurück. Das macht mich froh.«
Das Gespräch war plötzlich beendet.
Der Hörer fiel ihr aus den Händen, als sie sich auf den Teppichboden übergab.
Sie schlief kurz vor drei Uhr ein und erwachte bereits wieder gegen vier Uhr morgens, weil sie Durst hatte und Kopfschmerzen sie quälten.
Durchs Fenster beobachtete Myriam, wie sich dunkle Wolken an der schmalen Mondsichel vorbeischoben.
Sie sollte aufstehen und etwas trinken.
Doch sie konnte sich nicht aufraffen und blieb in der Dunkelheit liegen. Die düstere Nacht entfaltete ihre volle Macht. Myriam war betrunken. Hatte sie sich also diesen Anruf nur eingebildet? Aus Angst vor der Einsamkeit? Sie versuchte sich an die Stimme zu erinnern. Sie musste den Anrufer kennen. Doch wer außer ihr wusste, dass Henri sie hinausgeworfen hatte? Oder beobachtete der Unbekannte lediglich, wann sie kam und ging? Wohnte er vielleicht genau gegenüber, hatte sie immer im Blick? Sie warf sich auf die andere Seite.
Hatte sie wirklich nicht geahnt, was sich anbahnte? War sie unfähig oder unwillig gewesen, die Zeichen zu lesen? Hatte Henri in letzter Zeit etwas gesagt, getan, das darauf hinwies, was in ihm vorging?
Nichts. Nichts. Nichts.
Sie erinnerte sich an keinen Hinweis in seinem Verhalten, kein Signal, dass seine Gefühle sich geändert hatten. Oder hatte sie die Zeichen ignoriert?
Sie warf sich von einer Seite zur anderen.
Ich bin blind, dachte sie. Ja, blind und taub. Wir haben nie wirklich über uns geredet, und ich habe die Dinge einfach laufen lassen. Habe diese Sprachlosigkeit mit Vernunft verwechselt. Mit Selbstbeherrschung. Mit Intelligenz. Mit Überlegenheit.
Totaler Schwachsinn!
Wo war ihre Intuition geblieben? Abtrainiert. Wegrationalisiert. Entsorgt. Oder hatte sie diese Fähigkeit noch nie besessen?
Es geht hier aber nicht um mich, um uns, quälte sie sich weiter, wir sind nur Peanuts. Aber Helena Baarova. Das sind die wichtigen Probleme. Alles andere kann warten, muss warten.
Sie schwitzte. Die Temperatur im Schlafzimmer war unerträglich. Endlich fiel ihr
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