Die Signatur des Mörders - Roman
ein, dass die Heizung lief, weil sie diese nach dem Winter nicht abgedreht hatte.
Wer hatte noch mal gesagt, jeder Mörder erzählt mit seiner Tat eine Geschichte? Nein, nicht irgendeine, sondern seine. Und jede dieser Geschichten berichtet in unendlich vielfältigen Varianten von Macht, von Tod, von Gier, von Verzweiflung. Was wollte Helenas Mörder mitteilen?
Auch Helena hatte die Chance verpasst, hatte nicht aufgepasst, die Signale nicht verstanden: die Signale des Hasses, die Zeichen der Schwäche, einer Schwäche, die sich am Ende nur mittels Gewalt in Macht verwandeln konnte.
Myriam schaltete das Licht an. Das Gefühl der Ohnmacht muss wirklich überwältigend gewesen sein, dachte sie, wenn es sich in einem derartigen Blutrausch entlud.
Nein, Myriam hielt nicht viel von der Theorie, Täter wollten gefasst werden. Dennoch legten sie mit jeder Tat eine Spur zu sich selbst, und für viele von ihnen, gerade wenn es sich um Mord handelte, stellte die Tat so etwas wie einen kreativen Akt dar.
Myriam schob sich aus dem Bett und schwankte zum Fenster, um es zu kippen. Sie brauchte frische Luft. Die Kopfschmerzen waren unerträglich. Zudem spürte sie den Alkohol in ihrem Körper. Ich bin kein Teenager mehr, verfluchte sie sich selbst, der sich aus Liebeskummer mit Whiskey und Wein besäuft.
Erschöpft kroch sie zurück unter die Decke und schloss die Augen. Irgendwann würde sie schon einschlafen.Wenn Helena Baarovas Bild aus ihrem Kopf verschwand. Doch darauf wartete sie vergeblich.
Ausgepeitscht zu werden bedeutete Strafe. Auch wenn es sich um eines dieser - wie hatte Wagner, dieser Idiot, es genannt? - sexuellen Spielchen handelte. Strafe, Folter, Sklave, Domina.
Ging es darum? Schmerzen als Lust? Hatte Helena deshalb einfach weitergetanzt? Sich nicht gewehrt?
Myriam schaltete das Licht wieder aus.
Es handelte sich keinesfalls um ein Gelegenheitsverbrechen, im Vorbeigehen begangen.
Sie muss geschrien haben.
Die Nachbarn!
Oder war die Musik so laut gewesen, dass man ihre Hilfeschreie nicht hörte? In diesem Haus wurde vermutlich jede Nacht geschrien. Vor Lust oder Angst, das machte in dieser Umgebung keinen Unterschied.Vielleicht hatte Helena den Täter sogar gebeten, ihn angestachelt, ihn mit zusammengebissenen Zähnen angefleht, ihr wehzutun, ihr Schmerzen zuzufügen.
Myriam glaubte plötzlich die Trommeln aus der Ballettmusik zu hören. Le Sacre du Printemps.
Das Rollo an ihrem Schlafzimmerfenster, das sich nicht mehr herunterlassen ließ, musste repariert werden. Das Licht der Straßenlaterne drang hell durch das schwarze Fenster, schmerzte in ihren Augen. Als eine Autotür zugeschlagen wurde, schrak sie zusammen.
Welche Bedeutung konnte diese Musik für den Mord haben? Mit dem Gefühl der Hilflosigkeit fiel Myriam langsam in eine Art Halbschlaf mit albtraumartigen Versatzstücken, die sie immer wieder hochschrecken ließen.
Zu viele offene Fragen, aber eine Antwort war sicher: Helena Baarova musste sich selbst gehasst haben. Oder gab es einen anderen Grund, unter den Schlägen einer Peitsche stillzuhalten?
Prag, Beneditskagasse
Samstag, 28. April
7
Die Wolken hingen tief, und der verdunkelte Himmel ließ eine melancholische Stimmung in der Beneditskagasse aufkommen. Filip Cerny fühlte sich wie in einem französischen Film noir mit seinen düsteren Bildern und verbitterten Antihelden; diesen Femmes fatales, den korrupten Polizisten, eifersüchtigen Ehemännern, heruntergekommenen Schriftstellern.
Halb deprimiert, halb erleichtert schloss er die Tür hinter Lionel Rostenberg, dem amerikanischen Kunden, der seit Jahren mit seinem Vater Geschäfte machte. Jedes Frühjahr reiste Rostenberg Ende April nach Prag, um nach Erstausgaben, Autografen, unentdeckten Manuskripten zu suchen. Geld spielte keine Rolle. Um so frustrierender war es für Filip, als der Amerikaner in diesem Jahr den Laden mit leeren Händen verließ.
Doch Filip hatte sich daran gewöhnt, dass er, der hoffnungsvolle Erbe, der Jüngste in einer langen Reihe von Antiquaren, zu dem blamablen Ende dieser Geschichte geworden war.
Er stellte nicht nur eine Enttäuschung für seinen Vater dar, der ihn Abend für Abend mit einem gleichermaßen erwartungsvollen wie resignierten Blick begrüßte. Auch Dora sah ihn so an. Desillusioniert, geradezu ernüchtert, und nicht zu vergessen Pavel, sein Sohn. Im Grunde genommen konnte auch gleich die ganze Welt Filip Cerny für einen Versager halten, wenn nicht einmal sein fünfjähriger Sohn ihn
Weitere Kostenlose Bücher