Die Signatur des Mörders - Roman
du«, flüsterte Myriam und streichelte behutsam über die verschwitzten dunklen Haarstoppel. »Brüll ruhig. Ich wäre froh, ich könnte das auch, einfach laut losbrüllen.«
Sie genoss den beruhigenden Geruch nach Baby und fragte sich, wann sie selbst diese Fähigkeit verloren hatte: zu schreien.
Frankfurt am Main
Sonntagnacht, 20. Mai
33
Der Wagen erreichte den Platz der Republik, wo Ron nach rechts in die Mainzer Landstraße abzweigte, um nach einigen Minuten neben einem trostlosen Gebäude zu halten. Davor standen einige bemitleidenswerte Gestalten, froren und rauchten, als ob die rote Glut der Zigaretten sie wärmen könnte.
Niemand stand ohne Grund vor diesem Haus in der Mainzer Landstraße. Wer sich hier aufhielt, wartete darauf, endlich ins La Strada zu kommen, um sich Heroin zu spritzen, ohne von der Polizei belangt zu werden, oder ein Bett für die Nacht zu finden.
Nach dem Klingeln öffnete ein gebückt laufender Mann mit großen leeren Augen, der sie in das Café führte. Hier saßen etwa ein Dutzend Männer und Frauen. In Myriam zog sich alles zusammen. Nicht nur, weil der Geruch nach Körperausdünstungen, nach Essen, nach Zigarettenqualm, nach Alkohol, nach dem Dreck der Straße sie fast umwarf, sondern weil die grauen Gestalten am Tisch nicht miteinander sprachen, sondern aneinander vorbei in die Luft starrten. Sie stand direkt neben einem von ihnen. Er war, verglichen mit den anderen Besuchern, noch jung. Mitte zwanzig vielleicht. Er hatte schulterlanges blondes Haar und dünne Arme. Sein Kopf sank nach unten, als würde er in einen Sekundenschlaf fallen, doch er schreckte sofort wieder hoch, als besäße er nicht den Mut einzuschlafen.
Niemand sollte so leben müssen. Dennoch musste sie es zulassen, konnte es nicht verhindern. Sie wusste es. Die Erfahrung sagte es ihr. Unwillkürlich überlegte sie, wie viel Geld sie dabeihatte. Sie schaute sich um, ob es irgendwo eine Sammelbüchse gab.
»Alex?«, hörte sie die Frau vom Notdienst, wie war ihr Name? Myriam entdeckte das Schild an der schwarz-grau karierten Bluse. Lindner, Christa Lindner. »Ja, der ist hier gewesen. Ist noch gar nicht so lange her. Er hat etwas gegessen, getrunken und …« Sie brach ab.
»Er hat also etwas bekommen?«, fragte Henri.
Die Sozialarbeiterin nickte. »Ja.«
»Was nimmt er denn so?«
»Heroin und regelmäßig Crack. Eigentlich alles außer Pillen und Trips.«
»Wie oft?«
»Inzwischen braucht er dreimal am Tag seine Ration, sonst beginnt der Turkey.«
»Dann ist er wieder gegangen?«
Die Frau seufzte. »Er sollte die Nacht hier verbringen, aber kaum hatte ich mich umgedreht, war er verschwunden. Alex hat eine Leberzirrhose.« Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Für ihn ist der Zug abgefahren, wenn er sich nicht behandeln lässt.«
»Warum bringen Sie ihn nicht in eine Klinik?«, fragte Myriam und bereute sofort ihren aggressiven Tonfall. Verflucht, Myriam, maß dir kein Urteil an. Die Leute hier wissen genau, was sie tun.
»Haben Sie eine Ahnung, wie oft er schon im Entzug war? An die sieben Mal. Er schafft es nicht. Und wird es nie schaffen. Weil er es nicht will.«
In diesem Moment kippte der Becher um, vor dem der junge Mann saß. Die Cola lief quer über den Tisch auf seine Hose. Er schien es nicht zu bemerken, starrte lediglich misstrauisch auf den umgestoßenen Becher, als sei dieser von unsichtbarer Hand ins Wanken geraten. Ein Zeichen Außerirdischer, eine Kraft, die sich seinem Verstand und seinem Einfluss entzog.
»Setzen Sie sich.« Die Sozialarbeiterin wies auf einen freien Tisch. »Bevor ich Ihnen verrate, wo Sie ihn vielleicht … und ich betone vielleicht … finden können, möchte ich wissen, warum Sie ihn überhaupt suchen. Er ist niemand, der etwas anstellt.«
»Er ist vermutlich ein wichtiger Zeuge in einem, nein, zwei Mordfällen. Hat er darüber etwas gesagt?« Henri nahm dicht neben Myriam Platz, während er sprach. Sie empfand seine Nähe als beruhigend. Unwillkürlich schaute sie auf die Datumsanzeige der Uhr. Die Tage bis zum Ablauf des Ultimatums verstrichen.
»Hat er etwas gesagt?«, wiederholte Henri die Frage.
Frau Lindner lachte kurz auf. »Alex? Das ist einer, der seine Klappe nie hält. Er denkt immer, er hat der Welt Wichtiges mitzuteilen. Wissen Sie, die Leute nehmen aus verschiedenen Gründen Drogen. Manche sind schwach, andere lieben den Kick …«
»Und Alex?«
»Alex, das ist einer, der einfach verzweifelt ist. Der mit offenen Augen durch die Welt
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