Die Signatur des Mörders - Roman
geht und an dem, was er sieht, zugrunde geht. Wer will es ihm verübeln? Aber genau das macht es so schwer, ihn zu therapieren. Er hat seine eigene Philosophie. Ihm geht es nicht darum, Dingen zu entfliehen, nein, er kann das Leben anders nicht ertragen.«
»Ist das nicht dasselbe?«, fragte Myriam.
»Ist es nicht.« Frau Lindner warf ihr einen strengen Blick zu und wiederholte: »Ist es nicht. Zwischen Flucht und Verzweiflung ist ein großer Unterschied. Alex ist einer, der noch immer alles wahrnimmt, was um ihn herum passiert. Er ist zu sensibel.«
Myriam versuchte sich daran zu erinnern, was Alex bei ihrem ersten Gespräch gesagt hatte.
»Und heute?«, hörte sie Henris ruhige Stimme.
»Heute?« Die Sozialarbeiterin runzelte die Stirn. »Er hat ziemlich viel geredet, und was er sagte, klang sogar für seine Verhältnisse ziemlich abstrus. Wenn ich so richtig …«
»Hatte er einen Hut dabei?«, unterbrach Myriam sie.
»Einen Hut?« Frau Lindner runzelte die Stirn. »Nein.«
»Was hat er denn erzählt, was so … wie nannten Sie es … abstrus klang?«, wollte Ron wissen.
»Na ja, heute hatte er eine religiöse Anwandlung. Das ist sonst nicht sein Ding. Sonst ist er derjenige, der gegen die Kirche und den Papst wettert. Er denkt manchmal, wenn er bei klarem Verstand ist, sehr politisch.«
»Aber heute?«
»Nun, er hat etwas von der Hölle erzählt. Vom Weg ins Dunkel. Und von einem Licht.« Sie überlegte kurz. »So genau weiß ich das nicht mehr, ich meine, die Leute erzählen hier ja oft seltsame Dinge, da hört man nicht immer so genau hin.«
»Versuchen Sie sich zu erinnern«, Henri beugte sich nach vorne. »Es ist sehr wichtig.«
Sie lachte kurz auf. »Ach ja, er hat etwas von Pan Tau erzählt und dass dieser eigentlich der Teufel sei. Einer, vor dem man sich in Acht nehmen müsse. Wir alle. Er sei das Böse in Gestalt des Guten. Wenn ich so richtig darüber nachdenke, dann …«
»Was?«
»Ich weiß nicht, aber ich glaube, er fürchtete sich.«
»Wovor?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn gefragt, ob er hier schlafen will, aber er meinte, nein, er würde nie wieder schlafen. Er müsse auf die Stadt aufpassen.«
»Auf die Stadt aufpassen?«, wiederholte Ron.
»Ja, genau, das weiß ich so genau, weil ich ihm zum Abschied gesagt habe, pass lieber auf dich auf, Alex.«
Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Und darauf hat er etwas geantwortet.«
»Was?«
»›Ich habe mich geirrt. Vollkommen geirrt. Ich habe geglaubt, die Welt muss auf mich aufpassen, aber es ist völlig anders. Ich muss die Welt retten.‹ Und dann hat er mich gefragt, ob es zu spät dafür ist.«
»Ob es zu spät ist?«
»Ja, und ich habe geantwortet, es ist nie zu spät, die Welt zu retten.«
Myriam zuckte innerlich zusammen und fragte sich, wie eine Frau mit dieser Erfahrung so einen Schwachsinn reden konnte. Wie sie einen Mann wie Alex mit diesen Worten wegschicken konnte.
»Dann meinte er: ›Gott sei Dank.‹ Und ist gegangen.« Die Sozialarbeiterin erhob sich. »Übrigens hat er seine Sachen dagelassen.«
»Welche Sachen?«, fragte Myriam alarmiert.
»Na ja, die Leute, die hierherkommen, die hängen an den wenigen Dingen, die sie haben. Sie haben mehr Angst, eine Plastiktüte könne gestohlen werden, als ein Manager um seinen Mercedes bangt. Wir haben hier Schließfächer, in denen sie ihren Besitz deponieren können.«
»Wo sind sie?« Henri erhob sich.
»Kommen Sie mit.«
Sie führte sie hinaus auf den Flur und blieb vor einer Tür stehen. »Ich bin gleich wieder da.« Sie verschwand und war wenige Sekunden später mit einem Schlüssel zurück. »Der lag noch auf dem Schreibtisch. Ist ja noch nicht lange her, dass Alex hier war.«
Sie ging voraus und führte sie eine Treppe hinunter, wo sie vor einer Wand mit Spindschränken stehen blieb. »Die Schränke haben wir aus einer alten Fabrik. Wir sind immer auf Spenden angewiesen.« Sie ging die Reihe entlang. »Hier ist es. Nummer 46.«
Die Sozialarbeiterin schloss die Tür auf, und sie blickten auf zwei prall gefüllte Plastiktüten. »Ich mache das nicht gerne«, sagte Frau Lindner. »In diesen Tüten befindet sich das gesamte Leben dieser Leute. Ihre Intimsphäre. Ich meine, das ist so, als ob Sie in seine Wohnung eindringen.«
»Ich weiß«, erwiderte Henri. »Aber Alex ist ein wichtiger Zeuge. Hat er nie von Helena Baarova erzählt, wenn er hier war?« Er trat einen Schritt nach vorne, griff nach der ersten Plastiktüte und öffnete sie.
»Helena
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