Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
Vom Netzwerk:
stehen, liebevoll ruhten seine kleinen Äuglein auf Luther. »Vielleicht musst du gar keine Streitschrift verfassen, Martinus. Vielleicht genügt es, zum Disput aufzurufen. Das ist gute akademische Sitte, und unser Fürst wird die Hand über dich halten, dessen bin ich mir sicher.«
    »Allein dadurch, dass ich zum Disput über den Ablass aufrufe, wende ich mich gegen seine Heiligkeit, den Papst. Und, Staupitz«, er stand auf, ging zu seinem Mentor und packte ihn an beiden Armen, »ist es das wert? Bin ich alleine klug? Wenn so viele den Ablass gutheißen, vielleicht haben sie ja recht und ich nicht? Vielleicht bin ich ja nur Opfer meines eigenen Hochmuts? Und deshalb soll ich die Kirche, meine Kirche, in ihren Grundfesten erschüttern? Ausgerechnet ich, ein kleiner Bergmannssohn aus Eisleben? Soll Gott so einen wie mich erwählt haben? Oder laufe ich Hirngespinsten hinterher? Herrgott, Staupitz, es quält mich so, dass ich’s kaum aushalten kann. Es bringt mich um!« Ein Schluchzer entrang sich seiner Kehle, und er schlug die Hände vors Gesicht.
    Der Professor legte seinem Freund den Arm um die Schultern. »Du zweifelst, mein Lieber, und das ehrt dich. Hat nicht auch unser Herr Jesus gezweifelt, hat voller Angst gebeten, den Kelch nicht leeren zu müssen?« Er ging hinüber zu seinem Hocker, wo er eine dicke lederne Tasche abgestellt hatte. »Ich weiß, wie es dir geht, Martinus. Ich selbst habe nicht nur einmal in den Abgrund der Verzweiflung geblickt, dass ich wünschte, ich wäre nie als Mensch erschaffen worden.«
    »Warum hilft Er mir nicht, Johannes? Warum weist Er mir nicht den Weg? Meine Qualen sind so höllisch, dass keine Zunge es aussprechen, keine Feder es niederschreiben kann. Nirgends ein Trost, nirgends ein Entrinnen, alles klagt mich an. Weil ich nichts tue, um der Kirche ein neues Gesicht zu geben. Weil ich feige bin. In manchen Augenblicken kann die Seele nicht mehr glauben, dass sie jemals erlöst werde, da bleibt nichts übrig als der nackte Schrei nach Hilfe. Doch nichts! Und Gott zürnt mir doch!«
    »Ah, kommst du dahin, dass Gott ein Bösewicht sei, nur weil er dir nicht deinen Willen tut! Mein Freund, hier hört das laudate auf, und das blasphemate fängt an.« Staupitz drohte Luther mit dem Finger. Dann schnürte er die Ledertasche auf, holte ein ganzes Paket Schriftstücke hervor und legte sie auf dem Tisch ab. »Vielleicht hilft dir das hier«, sagte er und pochte mit zwei Fingern auf den Pergamentstapel.
    Luther wischte mit dem Ärmel den Schweiß fort, der ihm auf die Stirn getreten war. »Was ist das?«, fragte er müde.
    »Du weißt ja, dass zwei unserer Brüder im Böhmischen waren«, erwiderte der Professor. »Gestern kamen sie zurück und brachten dies hier mit. Es sind Schriften, die man erst kürzlich in der Stadt Tabor in einem verschütteten Keller entdeckt hat.«
    »Tabor? Die Hochburg der Hussiten in diesem furchtbaren Krieg damals?«
    Staupitz nickte. »Ja. Ich habe nur kurz hineingelesen. Briefe von Jan Hus sind darunter, etliche Dinge, die er zu Konstanz auf dem Konzil geschrieben hat. Anderes mehr von hussitischer Hand. Aber das bemerkenswerteste ist dies hier.« Er zog eine Mappe aus dem Stapel und legte sie ganz obenauf. »Wenn ich mich nicht sehr täusche, dann ist dies das Vermächtnis eines der ganz Großen unseres Zeitalters. Eines Mannes, den auch du verehrst und schätzt und dessen Ansichten sich mit vielem decken, was auch du für gerecht hältst.«
    »Wen meinst du?« Luther griff nach der Mappe.
    Staupitz hob die feinen Augenbrauen und lächelte. »Johannes Wyclif, Martin.«
    Luther starrte Staupitz ungläubig an. Dann schlug er die erste Seite der vergilbten, staubigen Blätter auf. Lateinische Buchstaben standen da, und er übersetzte stumm: »Alt, abgelebt, müde, kalt und nun gar halbblind, schreibe ich, John Wyclif, geringster unter den Dienern des Allmächtigen, das, was mir noch zu sagen bleibt, auf dass es jener wisse, der mein Werk fortführt ...«
    Luther ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er bemerkte gar nicht, wie Staupitz nach einiger Zeit den Raum verließ. Er las wie im Fieber, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Seite um Seite. Es war Wyclifs Aufruf zum Handeln. Ja, hier war einer, der am Ende seines Lebens bereute, nicht besser für seine Sache gestritten zu haben. Der den Tod kommen sah im Bewusstsein, nicht genug getan zu haben für seinen Gott und seine Kirche. Luther las und las. Eine Kerze nach der anderen brannte herunter und

Weitere Kostenlose Bücher