Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
mich an, als hätte ich unzählige eingesperrte djenoun geweckt. Dann fällt mir auf, dass sich das Regal verschoben hat. Ich lege den in Leinen gewickelten Koran vorsichtig auf den Boden, rücke das Regal wieder zurück, damit das Glasgefäß einen sicheren Stand hat, und beglückwünsche mich im Stillen, weil ich eine Katastrophe abgewendet habe. Ich frage mich, wo Sidi Kabour so viele menschliche Augenäpfel herhat, doch dann bemerke ich, dass die Pupillen vertikale Schlitze sind, wie bei Katzen- oder Ziegenaugen.
Wirklich, ich kann hier nicht länger warten. Ich werde geradewegs zum Palast zurückkehren, um Moulay Ismail zu begleiten, Zidana erklären, dass ihre Bestellung aufgegeben wurde und ich sie später abhole, und hoffen, dass mir das Glück treu bleibt. Jedenfalls ist es das einzig Vernünftige, was ich tun kann. Entschlossen drehe ich mich um, zu schnell … stolpere über ein Hindernis, das hinter mir am Boden liegt, und verliere das Gleichgewicht.
Normalerweise bin ich sehr wendig, aber die Augäpfel haben mich aus der Fassung gebracht, wenn nicht gar den Sturz provoziert, gerade als ich mir auf die Schulter klopfen wollte, weil ich glaubte, mich ihrem bösen Einfluss entzogen zu haben. Als Nächstes weiß ich nur, dass ich nach hinten falle und mit dem Kopf gegen einen Stapel Körbe schlage. Sie schwanken, geraten ins Rutschen und überschütten mich mit Stachelschweinstacheln, getrockneten Skorpionen und einem ganzen Schwall von … toten Fröschen. Ich hebe einen auf und halte ihn voller Abscheu hoch. Dann springe ich auf und klopfe die ekelhaften Dinger von meinen Kleidern. Die Stacheln der Schweine und die Scheren der Skorpione haben sich in der Wolle des Burnus verhakt und wollen nicht loslassen. Ich muss sie einzeln abpflücken und dann auch noch die Rückseite meines Umhangs inspizieren. Dabei fällt mir auf, dass es mir tatsächlich gelungen ist, auch noch ein Glas mit Koschenille umzustoßen, die wie eine gierige rote Welle langsam durch die weiße Wolle nach oben kriecht.
Jetzt verliere ich endgültig jeden Rest von Haltung: Der Burnus, ein wunderbares Stück, feiner, als ich es mir je hätte leisten können, war ein Geschenk von Ismail, und jetzt ist er ruiniert. Normalerweise kann man mit einem Geschenk verfahren, wie man will, der Sultan aber hat eine scharfe Erinnerung und die unglückliche Angewohnheit, zu fragen, warum man nicht trägt, was man seiner Großzügigkeit zu verdanken hat. Mehr als einmal habe ich miterlebt, wie einer seiner Untergebenen wegen einer unbefriedigenden Antwort einen Arm, ein Bein oder gar das Leben verlor.
Ich hebe den Zipfel des Burnus an und versuche, die rote Flüssigkeit auszuwringen. Sie ist zähflüssiger und klebriger als Koschenille, und gleich darauf steigt mir ein durchdringender Geruch in Nase und Mund, der nichts mit zerquetschtem Ungeziefer, Räucherwerk oder etwas Schönem oder Heiligem zu tun hat.
Als ich mich mit einigem Grauen umsehe, entdecke ich, dass das Hindernis, über das ich gestolpert bin, Sidi Kabours Leiche ist. Jemand hat ihm so sauber wie einem Schaf am Aid el-Kebir die Kehle aufgeschlitzt. Sein weißer Bart liegt abgeschnitten als dicker, blutverklebter Klumpen auf seiner Brust. Im Moment des Todes haben sich seine Eingeweide entleert, womit sich der widerliche Gestank erklärt, der den metallischen Geruch nach Blut durchzieht. In dem Versuch, ihn zu verbergen, hat der Mörder offenbar alles auf den Messingbrenner geworfen, was in greifbarer Nähe war.
Eine große Traurigkeit überschwemmt mich. Der Islam lehrt, dass der Tod eine Verpflichtung sei, die uns auferlegt ist, eine Aufgabe, die man erfüllen muss, der man nicht ausweichen darf, dass er weder eine Strafe noch eine Tragödie ist und daher auch nicht gefürchtet werden muss. Doch irgendwie passt diese sanfte Philosophie nicht zu einem so brutalen Tod. Sidi Kabour war zu Lebzeiten ein anspruchsvoller Mann; dass man ihn derart abschlachtet und in seinem eigenen Blut liegen lässt, mit Augen, die blind in die Düsterkeit starren, ist widerwärtig. Ich bücke mich, um die starren Lider zu schließen, und sehe, dass etwas zwischen den fahlen Lippen steckt. Ich ziehe es heraus.
Noch bevor ich es genauer untersuchen kann, weiß ich mit Bestimmtheit, was es ist. Eine halb zerkaute Ecke der Liste mit Zidanas Bestellungen. Offenbar hat der alte Mann versucht, sie zu retten, indem er sie verschluckte. Entweder das, oder jemand hat sie ihm in den Mund gestopft. Der Rest ist
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