Die Socken des Kritikers
vielleicht haben Sie auch Lust, in meine zu kommen, ich meine, wenn Sie nichts Besseres vorhaben, würde ich mich wahnsinnig gerne einmal näher mit Ihnen unterhalten.«
Er kassierte einen Blick, den er nicht anders deuten konnte als mit: Du kleines Arschloch! Mit dir doch nicht!
Da sagte der Buffo einen Satz, den er sich mehr sagen hörte, als dass er ihn bewusst sagte: »Das muss toll sein, mit so einem Geheimnis zu leben.« Er stockte.
Die Frau mit Geheimnis wurde in der Sekunde blass, bekam hektische Flecken auf den Wangen und ging mit einem knappen »Pardon!« rasch in Richtung Toilette ab.
Der alte Oberspielleiter sah den Buffo verächtlich an. »Nicht sehr geschmackvoll von Ihnen. Darüber spricht man nicht, wenn eine Frau Derartiges durchgemacht hat. Eineinhalb Jahre Gefängnis –«
Das sagte der Oberspielleiter mehr zu sich.
Dem Buffo tanzte es vor den Augen. Ein Sexualattentat, dachte er, ein Mord im Bett.
»Woher wussten Sie denn Bescheid?«, fragte der Oberspielleiter.
Der Buffo log: »Das weiß doch schon jeder.«
Der Oberspielleiter wurde böse.
»Dann sollte aber auch jeder die Schnauze halten. Eineinhalb Jahre wegen Kollegendiebstahl, dann psychiatrische Behandlung wegen Kleptomanie und dann den Mut haben, in dieses Drecksnest zu gehen und noch einmal von vorn zu beginnen, dazu gehört allerhand. Halten Sie also in Zukunft Ihre blöde Schnauze. Über so was spricht man nicht.«
In Panik zahlte der Buffo, um vor der Rückkehr der Frau mit Geheimnis aus dem Lokal zu kommen.
Dem Kotzen nahe, ging er auf das Theater zu.
Da lag es vor ihm, mitten in diesem geschmacklosen Park mit den widerlich überzüchteten Beeten, da lag es, jeder Erotik entkleidet, spießig, nach Naphtalin und Ballettschweiß stinkend, unbedeutend, unbeachtet, zu Recht vergessen, am Arsch der Welt, ein Refugium für Gescheiterte.
Wenn ich auch nur noch ein Jahr an diesem Haus bleibe, dann nimmt mich endgültig keiner mehr, dachte er. Die Premiere warte ich noch ab – und dann wird gekündigt.
Als er auf der ersten Orchesterprobe aus dem Graben
Mädchen gibt es wunderfeine
… hörte, fühlte er sich verlassen wie noch nie.
Wiedererkennen
Sie war eine gehobene Schlagersängerin, schon Chansonette zu nennen. Was man auch tat. Ihre Tourneen waren seit Jahren konstant erfolgreich.
Eine Frau, die weiß, was sie singt
, diese Formulierung tauchte in den Besprechungen der Feuilletons des Öfteren auf. Sie wusste es wirklich. Sie wusste, es war Talmi.
Sie hatte einiges an echten Lieben und unechten großen Leidenschaften hinter sich gebracht, das erotische Achselzucken und das Behandeln des Nachgeschmackes waren ihr wohl vertraut. Daher konnte sie abschätzen, wie weit alles, was sie auf der Bühne von sich gab, von der Wahrheit entfernt war. Aber sie erhob für sich auch nicht den Anspruch, Wahrheiten von sich zu geben. Sie hatte nie jemanden gekannt, der sie ihr hätte schreiben können, und sie selbst hatte nie den Mut, es zu versuchen.
Sie hatte schon in der Schauspielschule den Brief an den, von dem sie dachte, er müsse der einzige bleiben, nie abgeschickt. Die Worte waren ihr zu banal. Sie wusste wirklich, was sie singt.
Vorbei waren die zwei Anfängerjahre als Provinzschauspielerin, die Zeit des hoffnungslosen Ehrgeizes, es zu schaffen. Vorbei waren die beruflichen Anfänge, wo der Rauch auf der Stimme der Karriere noch schadete. Denn der Sprechstimme hatte für die großen Emotionen – etwa im Klassiker – der Klang gefehlt, für die Koketterien des Boulevards die Leichtigkeit. Einmal aber hatte ein junger Kapellmeister die Idee gehabt, einen Liebesliederabend zusammenzustellen, hatte die Gesangsstimmen aller ambitionierten Ensemblemitglieder getestet und die ihre als besonders gut befunden.
Als sie das bemerkt und auch gesagt bekommen hatte, investierte sie einige Liebesnächte mit dem Musikus, um mehr Titel als die Kolleginnen und vor allem die schönsten zu bekommen.
So wurde der Chansonabend des Stadttheaters zu ihrem großen, persönlichen Erfolg. Der Kapellmeister und sie riskierten bald darauf einen Soloabend im
Kleinen Saal
des Konzerthauses. Auch der ging gut, es folgten Einladungen zu Firmenjubiläen und anderen Festlichkeiten, ein professionelles Management wurde erforderlich, sie hatte Glück mit der Wahl, der Manager brachte sie in Nachtsendungen und in dritten Programmen des Fernsehens unter, stellte den Kontakt zu einer erstklassigen Begleitband her, beriet sie auch in Sachen Tonträger nicht
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