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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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sie den Menschen schon gesehen und auch gesprochen, aber wo, in welchem Zusammenhang, das war jetzt absolut nicht abrufbar.
    »Ich bin jetzt Prokurist bei der Sparkasse«, sagte er. »Das war der richtige Entschluss damals, du warst ja, wenn ich mich richtig erinnere, auch dafür. Du hast mir dazu geraten.«
    »Hab ich das?«, fragte sie. Es wurde ihr immer unbehaglicher. Nichts fiel ihr ein. Möchten Sie mir nicht sagen, wer Sie sind?, wollte sie sagen, brachte es aber nicht heraus. Sie sagte nur: »Bleib doch nicht in der Tür stehen«, und während er ein klein wenig in den Raum trat: »Und sonst? Privat alles in Ordnung?«
    »Ja«, sagte er mit leichtem Lachen. »Aber Ehe scheint keine Dauerlösung zu sein. Du?«
    »Ich? Ich bin solo, ein Single.«
    »Du warst schon immer fürs Unabhängige.«
    »Das weißt du noch?«
    »Ich weiß eigentlich so ziemlich alles aus der Zeit.«
    »Find ich toll.«
    Sie war am Ende ihrer Kraft, am Rande der Hysterie. Das ist doch nicht möglich, dachte sie, da kennst du den von irgendwoher und hast doch keine blasse Ahnung.
    Sie griff hektisch zum Tee. Zugleich ertönte das erste Zeichen zum Pausenende.
    »Du musst dich konzentrieren«, sagte er.
    »Na ja, so langsam.«
    »Ich hab mich wahnsinnig gefreut, dich wiederzusehen, nach all den Jahren, ich hoffe, du bist nicht bös, dass ich hereingeplatzt bin, aber ich hab mir gedacht, wenn du schon einmal in diesem Nest bist, muss ich dir doch guten Abend sagen.«
    »Unbedingt«, sagte sie. »Ich hab mich auch wahnsinnig gefreut.«
    Er zog sich zurück. »Und toi, toi, toi! für den zweiten Teil!«
    »Wird schon schiefgehen.«
    Er war weg. Sie war total durcheinander.
Der lieben Frau für alles
erzählte sie von ihrer Ahnungslosigkeit, wer das gewesen sein könnte, auch den Begleitmusikern am Gang vor dem Wiederauftritt, und alle versicherten, das zu kennen, das sei furchtbar, da könnte man aus der Haut fahren, wenn man mit einem redet und nicht weiß, mit wem, und es nicht zugeben möchte, furchtbar sei das. Quälend.
    Die Chansonette suchte im zweiten Teil des Programms den Kopf des Mannes in den ersten beiden Reihen, in denen sie die Gesichter noch unterscheiden konnte. Da saß er aber nicht. Das Problem ging ihr nicht aus dem Hirn. Sie wollte es unbedingt lösen, was die Konzentration auf ihre Nummern etwas erschwerte. Zwei Tage später stand im
Bäderboten
– was sie nie erfuhr, denn wer beschafft sich schon den
Bäderboten
, um zu erfahren, was der befunden hatte – »souveräne Bühnenpräsenz, von minimalen Konzentrationsfehlern nicht beeinträchtigt«.
    Da sie repertoiremäßig auch viel von erotischen Begegnungen, Liebesnächten und unwiderruflichen Abschieden sang, versuchte sie, den Mann aus der Garderobentür in eine derartige Situation ihres Lebens zu projizieren.
    Vergeblich, er passte nirgendshin.
    Tagelang war ihr die Tournee vermiest. Sie ging sich und allen anderen auf die Nerven, weil sie das Thema:
Wer könnte das gewesen sein?
immer wieder ansprach.
    Dann folgte das Gastspiel in einer der großen Städte, zu dem der Freund wieder einmal nachgeflogen kam, und die Qual der Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem Kennen des Garderobengastes verblasste gegenüber dem Gefühl, von der Anwesenheit des Freundes behelligt und belästigt zu werden.
    Es vergingen einige Jahre. Die Chansonette hatte mit ihren alljährlichen Tourneen aufgehört. Finanziell waren sie nicht mehr notwendig. Die Einzelauftritte bei Firmengalas reichten, um nie auf das nicht unbeträchtliche Ersparte zurückgreifen zu müssen und dennoch vom Freund gänzlich unabhängig zu sein. Künstlerisch hatte sich ihre Unlust an dem ständigen Wiederholen des Tourneerituals verstärkt, da Stillstand in der Karriere langsam, aber sicher als Rückschritt erscheint, minimales Nachlassen des Publikumszuspruches als Vorbote zu vermeidenden Desasters. Sie hatte das in dem Gespräch mit dem Manager aufs Tapet gebracht. Der widersprach zwar eine Zeit lang, denn an Prozenten wäre bei Tourneen für ihn immer noch einiges drin gewesen, ihre Bestimmtheit veranlasste ihn jedoch, nachzugeben und das Unternehmen umzubauen.
    Er wollte die Klientin nicht verlieren, mit den Industriegalas war sicher noch zehn Jahre gutes Geld zu machen.
    Eines Tages hatte sie in einer der trostlosesten Städte des Industriereviers bei einer Veranstaltung der Landesbank für die Herren der Direktionsetagen und deren ausgewählte Kunden aufzutreten. Es war nicht ihr Tag. Sie fühlte sich unwohl,

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