Die Socken des Kritikers
schlecht und wollte körperlich nichts von ihr. So konnte alles seinen branchengerechten Gang gehen.
Der abgehalfterte junge Kapellmeister versuchte danach vergeblich, wieder eine Chansonsängerin zu entdecken.
An die zwanzig Jahre waren vergangen. Der ganz große Spaß war ihr abhandengekommen, zu sehr hingen ihr einige Lieder, die ihr Markenzeichen waren, schon zum Halse heraus. Allerdings genoss sie es immer noch, ihr schönes Foto von den Plakatwänden und Aufstellern strahlen zu sehen, vom Management vor Tourneebeginn zu erfahren, wo zweifelsfrei mit einem ausverkauften Haus gerechnet werden könne. Zudem boten ihre Tourneen dem verheirateten Freund und Erzeuger moderner Installationsgeräte Gelegenheit, sich wieder einmal intensiver um seine Familie zu kümmern oder sich eine andere Abwechslung zu gönnen, was die Chansonette auf Tourneen nur in Ausnahmefällen tat. Für One-Night-Geschichten hatte sie zu wenig Fieber und zu viel Geschmack.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ausschließlich in Großstädten gastiert. Sie forderte das auch in regelmäßigen Abständen von ihrem Manager, musste sich aber immer wieder erklären lassen, es gäbe nicht so viele Großstädte, um eine anständige und wirklich lukrative Tournee ausschließlich mit deren Terminen zustande zu bringen. Überdies würden die Fahrten, so komfortabel sie bei diesem Niveau der Tourneen auch sein konnten, zu lange dauern. Nein, erklärte der Manager, zwischen dieser und jener Großstadt müsse man die Kreisstadt und das gehobene Kurbad mitnehmen.
So kam sie erstmals in diesen Kurort am See.
Das Auto fuhr von einer Anhöhe, die den Blick auf den See freigab, in Serpentinen zum Ort hinunter. Sie bat den Fahrer, besonders langsam zu fahren. Was sie an diesem Anblick so faszinierte, war weniger der leicht eingenebelte schöne See, es war der Ort, es war die Überschaubarkeit des Ortes, begrenzt durch einen See vorne, einen Berg hinten und die Schilder »Willkommen in …« und »Auf Wiedersehen in …«.
Warum lebt man nicht in so einem Ort?, dachte sie. Als sie die Uferstraße zum Hotel fuhren, lag alles sehr im Dunst, so hatte sie auch gar keine Lust, zum Strand zu bummeln, die Gefahr eines
Reizhustens
war bei derartigem Wetter immer gegeben. Sie legte sich auf das große Bett im schönen Zimmer des ersten Hotels am Platz und fand alles ziemlich sinnlos. Gewohnheitsmäßig blätterte sie in der lokalen Zeitung, entnahm dem Feuilleton mit Zufriedenheit die Feststellung, die Freunde des Chansons hätten heute Abend eine kostbare Gelegenheit, war aber gleichzeitig irritiert vom Wort
Restkarten
.
Es hätte an diesem Tag des Nebels nicht bedurft, alles unklar erscheinen zu lassen, den Gang zum Kurtheater, in die Garderobe, auf die Bühne.
Licht, Sound und alles, was so zu besorgen ist, hatte ihr kleines und perfektes Team wie immer ohne sie erledigt, in der Garderobe wartete
die liebe Frau für alles
mit dem Pausentee. Als sie im ersten Teil des Programms in einem klassisch zu nennenden französischen Chanson irgendeinem untreuen Schwein versprach, ihn demnächst auf besonders raffinierte Weise zu kastrieren, dachte sie an den Tee und freute sich darauf.
»Ist es nicht ein entzückendes Theaterchen?«, sagte
die liebe Frau für alles
in der Pause. Die Chansonette trank den Tee und gestand sich ein, das Theater nicht weiter bemerkt zu haben.
Da klopfte es. Sie sagte: »Herein!«
Die Tür ging auf. Im Rahmen stand, ohne die Klinke loszulassen, ein Mann ihres Alters, von unspezifischem Äußeren, mittelgroß, vielleicht drei bis vier Kilo zu schwer, das blonde Haar in den Ecken schon etwas durchsichtig, für den Chansonabend korrekt gekleidet, nicht zu elegant, aber auch nicht zu alltäglich.
»Ich hoffe, ich störe dich nicht in der wohlverdienten Pause«, sagte er. »Ich geh auch gleich wieder, ich wollte dir nur guten Abend sagen.«
Sein Blick war herzlich, aber scheu. Er schien weniger Angst zu haben zu stören, als nicht erkannt zu werden.
»Ja, grüß dich«, erwiderte sie in derselben Sekunde.
»Schön, dich zu sehen, du störst mich überhaupt nicht, es geht nur bald …«
»Ich bin sofort wieder dahin«, sagte er. »Es freut mich nur, dass es dir so gut geht. Du hast wirklich eine schöne Karriere gemacht.«
»Danke, es geht. Und du? Was machst du?«
Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war. Aber er kam ihr immerhin so bekannt vor, dass sie es sich nicht leisten wollte, sich zu blamieren, sie wusste, irgendwo hatte
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