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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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wie immer. Der Radiologe streichelte ihre Wange und hielt dann ihren Unterarm fest.
    »Ich mache nur weiter, wenn mir eine eigene Geschichte einfällt. Von vorne bis hinten erfunden«, sagte sie und kämpfte mit der Zunge gegen eine eingebissene Gräte. Daher war die folgende Frage nicht leicht zu verstehen.
    »Sag, gibt es einen homosexuellen Rassismus?«
    »Bitte?«
    »Ich wollte wissen«, die Gräte war entfernt, die Stimme wieder klar, »ob es einen homosexuellen Rassismus gibt.«
    »Aber ja. Und ich habe dafür Verständnis. Du musst bedenken, was man den Leuten über Zeiten angetan hat. Und noch tut. Diese Verlegerin war gänzlich unemanzipiert, trotz der großen Allüre.«
    Er sah seine Gefährtin prüfend an.
    »Hat sie dir nie einen Antrag gemacht?«
    »Nein, und wenn, hätte ich es nicht gemerkt. Vielleicht ist sie auch monogam.«
    Beider Augen prüften die Augen des Gegenübers.
    Zugleich mit dem letzten Bissen des Zander kam der Radiologe zur Schlussfolgerung.
    »Sie hat vielleicht im ersten Moment geglaubt, du weißt alles von ihr und meinst mit der Hörigkeit die Beziehung zwischen ihr und ihrer Freundin.«
    Die Autorin dachte kurz nach.
    »Warum sollen Frauen, die Frauen lieben, klüger sein!«
    Das Buch wurde von einer Literaturagentin bei der Konkurrenz untergebracht. Es erschien in der Reihe
Frauen über Frauen
.

Die Ableitung
    Der Interviewte saß dem Interviewer gegenüber. Der hatte einen Notizblock vor sich liegen und stellte ein kleines Tonbandgerät auf.
    »Sie haben nichts dagegen, wenn ich – zur Sicherheit – aufzeichne?«
    »Im Gegenteil. Da kommt es wenigstens nicht zu Missverständnissen.«
    Der Interviewer sah auf. Sehr kurz.
    Scheiße, dachte der Interviewte. Jetzt habe ich ihn verärgert. Kann ich nicht mein blödes Maul halten? Aber das hätte bei dem ohnehin keinen Sinn. Das würde an der Einstellung dieses Herrn zu mir nichts ändern.
    »Trinken Sie doch ruhig erst Ihren Kaffee.« Das klang freundlich.
    »Nein, bitte, legen Sie los. Kalter Kaffee macht schön.«
    Das ist nicht mein Ernst, so blöd kann man doch nicht sein, wie kann mir diese albernste aller Phrasen herausrutschen, wieso krampfe ich mich so ein, ist mir der Kerl wirklich so unsympathisch? Hoffentlich sagt er jetzt »noch schöner?«, dann weiß ich, er ist ein noch größerer Trottel als ich.
    Der Interviewer sagte es nicht. Er schien beim Wort »schön« nur leicht gestaunt zu haben.
    »Ich möchte Sie nicht nur zu dem entscheidenden Punkt befragen, aber natürlich ist der der Aufhänger.«
    »Ist mir klar.«
    »Wollen Sie, dass wir damit beginnen? Gut.«
    Der Interviewer schaltete das Aufnahmegerät ein.
    Sie saßen im abgetrennten Nebenraum des Kaffeehauses. Der Hauptraum war für die Tageszeit – es war mittlerer Vormittag – miserabel besucht.
    Ich kann mir nicht helfen, ich finde die neuen Überzüge eigentlich schön, dachte der Interviewte. Er wusste, dass viele Leute der Szene das Kaffeehaus mieden, seit der Besitzer es gewagt hatte, ausmalen zu lassen und die zerschlissenen Überzüge zu ersetzen. »Sie beanspruchen den Dreck und die Schäbigkeit«, hatte der Interviewte einem Funkreporter gesagt, der im renovierten Traditionslokal ein Stimmungsbild aufnahm. Das hatte der Beliebtheit des Interviewten bei den Kollegen einmal mehr nicht genützt.
    »Sie sagen also, das Stück des großen Dichters ist faschistisch. Oder wie haben Sie es formuliert? Doch so, nicht?«
    Der Professor stand vor der Tafel. Mit fester Stimme erklärte er: »a 2 + b 2 = c 2 .«
    Das Klassenzimmer des Gymnasiums roch nach diesem widerwärtigen dunklen Bodenöl und nach Schülerangst. Der Professor aber, dessen Pullover, unter dem Sakko getragen, die Krawatte halb verdeckte, was der Schüler nie leiden konnte, war sich seiner Sache sicher.
    Mit Recht, dachte der Interviewte, mit Recht.
    Der Professor hatte doch Mathematik studiert. Während dieses Studiums hatte er die Sache mit c 2 erfahren. Er hatte das Studium abgeschlossen, konnte demnach bei seiner Abschlussprüfung über c 2 Auskunft geben, war danach berechtigt, Mathematik zu lehren. Und so stand er vor uns, behielt auch nicht für sich, wie der Mann hieß, der zum ersten Mal festgestellt hatte, welche Quadrate aufgrund welchen Winkels addiert c 2 ergäben. Nein, er sagte uns den Namen mit der nahezu bedrohlichen Aufforderung, ihn uns auch zu merken.
    »Ich gebe gerne zu, so eine Bewertung, oder soll ich sagen: Verurteilung, ist rasch dahingesagt. Aber es ist natürlich

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